04. August 2008
Kritiker befürchten, dass der Stadtteil an seinen Bewohner vorbeientwickelt werde. Manche wehren sich gegen Strukturveränderungen, andere kritisieren den Mangel an konkreten Verbesserungen
VON KRISTINA GERSTENMAIER
Gegen die Internationale Bauausstellung (IBA) 2013 in Wilhelmsburg regt sich Widerstand. Kleingärtner sorgen sich um ihre Oasen, Studenten um die billigen Mieten, andere bemängeln, dass die Bewohnerschaft nicht genügend an den bevorstehenden Veränderungen beteiligt werde. „Die IBA ist nur für die IBA da“, behauptet Michael Rothschuh, Professor für soziale Entwicklung.
Obwohl sich IBA-Mitarbeiter, Investoren und die Bewohner Wilhelmsburgs einig waren, dass im Stadtteil etwas passieren muss, haben sich seit dem Auftakt im vergangenen Jahr mehrere kritische Initiativen gebildet. „Es besteht die Gefahr, dass hier wohnende Menschen durch Mietsteigerungen und durch die Umwandlung von Sozial- in Eigentumswohnungen vertrieben oder in Randbereiche abgedrängt werden“, sagt der Journalist und Stadtteilaktivist Andreas Grünwald. Dies betreffe vor allem Migrantenfamilien und Wenigverdiener. Seit Monaten beschäftigt er sich im Aktionskreis „Wilhelmsburg gehört uns!“ damit, wie man „die asozialen Komponenten der ,Durchmischung‘ genannten Vertreibung eines Teils der Bevölkerung“ entgegentreten kann.
Die Immobilienpreise stiegen zwischen 2005 und 2007 schon von 1.018 Euro pro Quadratmeter auf 1.233 Euro. Das städtische Wohnungsunternehmen Saga vermeldet keinen Leerstand mehr, seit viele Studenten und Künstler in Wilhelmsburg ihre Zukunft sehen. Eine Mietsteigerung gebe es jedoch nicht, sagt eine Saga-Sprecherin.
Sanierungsarbeiten im Reiherstiegviertel haben bereits begonnen. Dabei werden in einem IBA-Projekt die Außenfassaden der Gründerzeitgebäude erneuert. Das „Weltquartier“, das Menschen von über 30 Nationalitäten beherbergt, wird unter Beteiligung der BewohnerInnen umgebaut. Die 820 Wohnungen des Quartiers sollen renoviert und vergrößert werden, so dass 130 wegfallen. Allerdings werden auch neue Wohnungen gebaut.
Bei den Projekten werde nicht viel herauskommen, unkt Michael Rothschuh. Auch Projekte, die sich erst einmal positiv anhörten, seien nicht nachhaltig. Sie würden nur angegangen, um 2013 etwas präsentieren zu können. Das so genannte Open House, bei dem „ein buntes Straßenleben“ mit Geschäften und Cafés entstehen werden soll, hält er für überfrachtet. Auch Andreas Grünwald spricht von einer „reinen Inszenierung“.
Es gebe kein einziges Projekt, das den Bewohnern nutze, behaupten einige. „Ihr habt viel versprochen, aber umgesetzt wurde bis jetzt nichts“, schimpfte Günther Katz, Vorsitzender des Bürgervereins, bei einer IBA-Veranstaltung. Der Zollzaun am Spreehafen im Norden des Stadtteils solle endlich geöffnet werden, damit die Anwohner Zugang zum Wasser hätten. Ein Fahrradweg solle den Stadtteil mit dem Alten Elbtunnel und St. Pauli verbinden.
„Der IBA stehen eine Millionen Euro zur Verfügung“, kritisiert Jörg von Prondzinski, der seit seiner Geburt im Stadtteil lebt. „Dafür wird Goldlametta gekauft und in die Luft gepustet.“ Eigentlich werde nur die Werbetrommel gerührt, um Investoren anzulocken.
Gute Ansätze wie der Themenschwerpunkt „soziale Stadt“ seien zwar vorhanden, meint Michael Rothschuh, aber die IBA habe keine Erfahrung damit. Deswegen sei die Umsetzung unzureichend. „Eine Befragung im Weltquartier ist keine längerfristige Bürgerbeteiligung“, sagt Rothschuh.
Die Bürgerbeteiligung ist der IBA wichtig. „Hier gibt niemand fertige Lösungen vor – schon gar nicht gegen den Willen der Betroffenen“, teilt sie im Internet mit. Tatsächlich hat sie schon eine Reihe von Diskussionsforen auch unter Beteiligung von Bewohnern veranstaltet. Eine Ausstellung in einem ehemaligen Supermarkt gibt einen Überblick über die Themen und Pläne.
Für Jörg Prondzinski steht fest, dass das grundlegende Problem Wilhelmsburgs der Lärm ist, dessen Lösung nicht angegangen werde. Im Zuge des IBA-Kultursommers, der in erster Linie Werbung für den Stadtteil machen solle, habe der Lärm sogar noch zugenommen. „Es wird versucht, Negativ-Lärm, wie die Container vom Hafen, mit Positiv-Lärm zu überdecken“, moniert er.
Prondzinski ist Mitbegründer der Lärmschutzinitiative „60 Dezibel“, die der IBA vorwirft, die lärmempfindliche Bevölkerung verdrängen zu wollen. Zwar würde die IBA gern die zentrale Wilhelmsburger Reichsstraße verlegen und den Durchgangsverkehr um den Stadtteil herumlenken. Doch zugleich plant der Senat einen neuen Containerhafen am Rande des Stadtteils.
Auch unter den Kleingärtnern regt sich Widerstand. Die Gruppe „Zornige Gartenzwerge“ kämpft um ihre Kolonie Bauernfelde, die teilweise geräumt werden soll. Die Gärten sollen Teil des Geländes der mit der IBA verbundenen Gartenschau werden. Die meisten Kleingärten sollen aber nur umgestaltet werden. Die Kleingärtner üben grundsätzliche Kritik an den IBA-Projekten: „Schwachsinn ist es“, sagt Kleingartenbesitzer Ronald Wilken, „wenn Grün gegen Grün kämpfen muss.“
Beileibe nicht alle Wilhelmsburger sehen die IBA so kritisch. Manuel Humburg von der Bürgerinitiative „Zukunft Elbinsel“ könnte vieles von den allgemeinen Projekten unterschreiben. Er glaubt nicht, dass der Stadtteil nach ökonomischen Kriterien umstrukturiert wird. „Der Mensch braucht mehr als bezahlbaren Wohnraum“, meint er, „zum Beispiel Bildung“. Darum kümmere sich die IBA in Gestalt einer neuartigen Stadtteilschule. Einige Kritiker argumentierten „unglaublich oberflächlich“.
IBA 2013
Die IBA ist ein Prozess, mit dem die Lebensbedingungen im Stadtteil über mehrere Jahre hinweg verbessert werden sollen. Die zentrale Idee ist, dass mitten in der Großstadt, auf der Elbinsel zwischen der City und Harburg, Stadtentwicklung betrieben wird. Dabei will das IBA-Büro wegweisende Lösungen für das 21. Jahrhundert finden. Sie orientieren sich an drei Themenkreisen: dem Zusammenleben vieler unterschiedlicher Ethnien, dem Klimawandel und den „inneren Stadträndern“, denn Wilhelmsburg ist umgeben von Hafen-, Industrie- und Verkehrsflächen. KNÖ
Verwendung: taz hamburg vom 04. August 2008
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18. Juni 2008
Seit drei Jahren hilft das Erwerbslosen Forum Betroffenen, ihre Rechte durchzusetzen. Ein Gespräch mit Martin Behrsing
Martin Behrsing ist Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland
Das Erwerbslosen Forum Deutschland beging soeben sein dreijähriges Bestehen. Was haben Sie in dieser Zeit erreicht?
Bundesweit gehört das Forum zu den bekanntesten Internet-Portalen für Erwerbslose. Inzwischen verzeichnen wir jeden Tag Seitenzugriffe von über 30000 Besuchern. Etwa 12000 Erwerbslose haben sich registriert. Sie haben damit einen Zugang auch zu den internen Foren, in denen sich Erwerbslose über ihre Erfahrungen mit Arbeitsämtern austauschen. Diese gegenseitige Hilfe, das Gefühl, nicht allein zu sein, ist auch der Punkt, an dem politische Aktionen entstehen. So ist unser Forum zu einer großen Erwerbsloseninitiative geworden. Bei diesen Aktionen konfrontieren wir die Verantwortlichen mit den Folgen der Hartz-IV-Gesetze und machen zudem auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten der Behörden aufmerksam. Bundesweit hat sich das Forum damit als anerkannter Interessenvertreter der Erwerbslosen profiliert.
Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Von Erfolg würde ich nicht reden, denn die Hartz-IV-Gesetze sind weiterhin in Kraft. Wir können mit unseren Informationen lediglich helfen, daß einzelne ihre Rechtsansprüche besser durchsetzen können.
Wäre es nicht Aufgabe der Arbeitsämter bzw. Jobagenturen, die Betroffenen über ihre Rechte zu informieren?
Nach dem Sozialgesetzbuch sind sie dazu sogar verpflichtet. Doch in der Praxis erleben wir, daß das meist nicht geschieht. Wenn ich mir etwa die Leistungsbescheide ansehe, dann muß ich feststellen, daß nach wie vor fast 70 Prozent aller Bescheide falsch berechnet worden sind, also zu Lasten der Betroffenen. Und die Betroffenen werden meist entweder falsch oder lückenhaft über die rechtlichen Möglichkeiten informiert, dagegen vorzugehen. Ähnlich ist es mit den sogenannten Eingliederungsvereinbarungen. Vielfach werden die Betroffenen dabei genötigt, etwas zu unterschreiben, was sie gar nicht wollen. Das ergibt auch arbeitsmarktpolitisch keinen Sinn.
Neben Ihrem Forum gibt es bundesweit zahlreiche weitere Erwerbsloseninitiativen. Wie ist die Zusammenarbeit?
Daß es vor Ort Initiativen gibt, halte ich für besonders wichtig. Denn der direkte Kontakt kann durch ein Internet-Forum nicht ersetzt werden. Doch in vielen Kommunen gibt es solche Initiativen noch nicht. Da sind wir dann häufig der erste Ansprechpartner, können aber auch dabei behilflich sein, daß sich solche Initiativen gründen.
Bei Einführung der Hartz-IV-Gesetze haben Sie gesagt, das sei Armut per Gesetz. Hat sich daran etwas verändert?
Nein, denn die Armut hat durch Preissteigerungen und die Willkür der Behörden seitdem zugenommen. Die Gründung unseres Forums war eine Reaktion auf Äußerungen des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement (SPD). Nachdem dieser Erwerbslose mit Parasiten verglichen hatte, haben wir uns gesagt: Jetzt ist Schluß! Jetzt müssen wir selbst für unsere Interessen aktiv werden. Auch und vor allem im politischen Raum.
Trotzdem fällt auf, daß sich noch immer nur wenige dafür mobilisieren lassen. Woran liegt das?
Erwerbslose sind eine sehr heterogene Gruppe. Die meisten Betroffenen haben bis zum Eintritt in die Erwerbslosigkeit kaum gelernt, wie sie für ihre Interessen selbst aktiv werden können. In die Armut getrieben, geht viel Energie dafür drauf, mit der eigenen Lebenslage zurechtzukommen. Die Erkenntnis, daß es auch andere gibt, denen es ähnlich geht, vor allem die Erfahrung, daß man sich gegenseitig helfen kann, ist dann häufig der Anstoß für eine nachhaltige Politisierung. Wir haben gelernt: Kombinieren wir Fragen der unmittelbaren sozialen Interessenvertretung mit politischen Forderungen! Das spricht viele an.
Anfang 2009 sollen die Hartz-IV-Gesetze noch einmal verschärft werden …
Aus dem Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums geht hervor, daß die Rechte des einzelnen Erwerbslosen weiter beschnitten werden sollen. Bislang war es möglich, mit Widersprüchen gegen unsinnige Maßnahmen zumindest eine Aufschiebung zu erreichen das soll nun ganz wegfallen. Im Kreis der Erwerbsloseninitiativen müssen wir deshalb dringend koordinieren, wie wir dagegen politisch vorgehen können.
Nähere Infos unter http://www.erwerbslosenforum.de/
Verwendung: Junge Welt vom 18. Juni 2008
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05. März 2008
Die Stadt Recklinghausen profitierte kräftig vom rechtswidrigen Einsatz von Ein-Euro-Jobbern. Ein Gespräch mit Detlev Beyer-Peters
Detlev Beyer-Peters ist Kreistagsabgeordneter der Partei Die Linke in Recklinghausen und Mitglied der DKP
Über einen Revisionsbericht der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurde jetzt aufgedeckt, daß die Vestische Arbeit (das ist die ARGE für den Kreis Recklinghausen) auch Ein-Euro-Jobber finanziert hat, die für Tätigkeiten eingesetzt wurden, die sie nach dem Kriterium der Zusätzlichkeit gar nicht hätten verrichten dürfen. Wie bewerten Sie das?
Wir bemängeln als Linke seit längerem, daß in der Stadt Recklinghausen übermäßig viele dieser sogenannten Jobs geschaffen wurden. Anfangs waren es 3500, jetzt sollen es nur noch etwa 2800 sein. Das allein verdeutlicht doch schon, daß es mit diesen Maßnahmen auch darum geht, reguläre und besser bezahlte Arbeit zu verdrängen. Denn viele dieser Jobber sind in normalen Dienstleistungseinrichtungen beschäftigt. Im BA-Bericht heißt es z. B. dazu, daß Ende 2006 272 Ein-Euro-Jobber allein in den 57 Altenheimen des Kreises Recklinghausen beschäftigt waren und von diesen wiederum 156 in Recklinghausen. Davon allein 40 im städtischen Seniorenzentrum in Grullbad. Das aber zeigt, daß die Jobs vor allem so vergeben wurden, daß der Personalhaushalt der Stadt entlastet wurde. Und das Altenheim Grullbad bekam besonders viel ab. Kein Wunder, denn Ulrich Lammers, Geschäftsführer der Vestischen Arbeit, war zugleich Geschäftsführer dieses Altenheims.
Der Mann hatte zwei verschiedene Jobs?
Richtig. Denn einerseits war Lammers als ehemaliger Beamter des Sozialamtes nebenberuflich auch der Geschäftsführer des Altenheims. Andererseits wurde er 2004 auf Kreisebene Leiter der Hartz-IV-Behörde. Dort muß er wohl seine Hauptaufgabe darin gesehen haben, möglichst viele dieser Jobs an seinen anderen Arbeitgeber, die Stadt Recklinghausen, zu transferieren. Dabei muß man bedenken, daß die Träger solcher Jobs ja nicht nur kostenlos Arbeitskräfte erhalten, sondern obendrauf sogenannte Fallpauschalen oder Qualifizierungsgelder. Im Revisionsbericht der BA wird festgestellt, daß von diesen Qualifizierungsgeldern nur ein kleiner Teil auch tatsächlich für Qualifizierungsmaßnahmen verwandt wurde. Außerdem kam heraus, daß die Vestische Arbeit Kostenpauschalen auch für Teilnehmerplätze gezahlt haben soll, die gar nicht besetzt waren. Das heißt: hier wurde Geld einfach abgezockt.
Wer trägt die Verantwortung dafür?
Einerseits Herr Lammers. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft schon seit einiger Zeit. Doch die politische Verantwortung liegt bei der Stadt und hier vor allem bei Bürgermeister Wolfgang Pantförder und dessen Sozialdezernent Georg Möllers (beide CDU). Beiden war lange bekannt, daß Lammers mit seiner doppelten Geschäftsführerfunktion zumindest einem Interessenkonflikt unterliegt. Wir fordern auch deren Rücktritt.
Welcher Schaden entstand für die ARGE?
Wir haben errechnet, daß sich allein das Altenheim Grullbad mit den Ein-Euro-Jobbern und dem anschließenden Personalabbau einen Wettbewerbsvorteil in Höhe von etwa 400.000 Euro verschafft hat. Das entspricht interessanterweise jenem Betrag, den das Altenheim für den Kauf seines Grundstücks von der Stadt Recklinghausen aufwenden mußte. Der Vestischen Arbeit dürfte dadurch ein Schaden von etwa 160.000 Euro entstanden sein.
Mußten die Erwerbslosen für die Arbeit im Seniorenzentrum Grullbad nicht besonders qualifiziert werden?
Sie wurden dort hauptsächlich für Hilfsarbeiten im hauswirtschaftlichen Bereich eingesetzt. Dafür ist lediglich eine Einarbeitung und keine besondere Qualifikation nötig. Inzwischen gibt es Hinweise, daß einige Jobber auch mit pflegerischen Tätigkeiten beschäftigt worden sein sollen.
Was hatten die Jobber von ihrer Arbeit?
Nur drei oder vier bekamen im Anschluß an ihre Arbeitsgelegenheit einen Minijob. Aber auch der war nur auf ein halbes Jahr begrenzt. Für mich zeigt dieses Herangehen, daß die Maßnahmen nur einen Zweck haben: Die Träger solcher Jobs sollen von der Arbeit der Erwerbslosen und den auf sie bezogenen Zuschüssen profitieren. Derartige Arbeitsgelegenheiten gehören deshalb abgeschafft und müssen durch reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt werden.
Verwendung: Junge Welt vom 05. März 2008
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11. Januar 2008
Bericht über eine Diskussion
Dieser Artikel soll über die Diskussion unserer Arbeitsgruppe unterschiedlicher Linker über die Zukunft unseres Stadtteils Wilhelmsburg informieren, die wir seit einigen Wochen führen. Ausgangspunkt dafür waren und sind die Planungen, wie sie unter dem Stichwort von der wachsenden Stadt auch und gerade für Wilhelmsburg greifen: Sprung über die Elbe, Internationale Bau- und Internationale Gartenbauausstellung 2013 (IBA und IGS). Eine schwierige Thematik, denn so wie es ist, kann es auch nicht bleiben. Unsere Elbinsel ist schon seit Jahren auch als ein Ort bekannt, wo Arbeitslosigkeit und Armut besonders greifen. Fast 50 Prozent der etwa 55.000 Einwohner (eingerechnet ist die Veddel) sind so arm, dass sie ohne staatliche Transferleistungen nicht leben könnten. In einigen Schulen liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei über 90%.
Doch können diese und andere Probleme im Rahmen des vom Senat angeschobenen Aufwertungsprozesses samt IBA und IGS – tatsächlich gelöst werden? Vielfach sind die Maßnahmen symbolischer Natur, nur darauf gerichtet, das Image des Stadtteils zu verbessern. Dort, wo sie realpolitisch greifen, besteht die Befürchtung, dass nicht Armut und Arbeitslosigkeit, sondern die Armen bekämpft werden. Die IBA bringt dafür den Lärm, der nun schon gnadenlos seit einem Jahr auf uns ballert. Wie ein unaufhörliches Feuerwerk von Veranstaltungen und Highlights, die so laut, so chaotisch und lärmend sind, dass Alteingesessene sich schon wünschen, dass der Sprung über die Elbe eher ein Sprung ins kalte Wasser wird.
Aufwertung zielt auf Image-Verbesserung
Doch die Dauerparty macht ihren Sinn. Für viele Millionen Euro soll das Bild von Wilhelmsburg, das Image, korrigiert werden. Seht her: das ist der Stadtteil der Zukunft, der mindestens genauso verrückt und genauso verworren ist wie das Schanzenviertel oder der Kiez. Weltquartier“ heißt deshalb nun ein eher trister Häuserblock im südlichen Reiherstiegviertel. Doch das Moderne dieser auch Gentrifizierung genannten Politik besteht eben darin, dass der alte Gedanke, Schlechtes durch Besseres zu ersetzen, damit sich die vorhandener Bevölkerung nicht nur wohler fühlt, sondern es ihnen auch besser geht, dabei überwunden scheint. Es reicht, das Gefühl dringt nach außen.
Gentrifizierung wird in der Fachliteratur als der Zusammenhang zwischen sozialer Aufwertung und den dafür notwendigen Prozessen im Bereich der Boden- und Immobilienverwertung eines Stadtteils beschrieben. Zu entscheiden ist demnach zwischen der baulichen, sozialen, kommerziellen und symbolischen Gentrifizierung. Letztere zielt auf die Raumsemantik eines Viertels, auf das gefühlte Image, das Bild nach außen. Im Rahmen eines Aufwertungsprozesses, der soziale Probleme durch Durchmischung“ (also auch durch Verdrängung) lösen möchte, hat die symbolische Aufwertung hohen Wert. Sie ist die Einstiegsdroge für die Pioniere, die sich niederlassen sollen. Pioniere, das sind Studierende, Künstler, Angehörige subkultureller Schichten, Gelockt durch den billigeren Wohnraum (der nötigenfalls, wie jetzt in Wilhelmsburg, subventioniert wird) sorgen sie für neue Szeneclubs, besondere Dienstleistungen, entsprechende Kneipen. So wird der Stadtteil auch für bessere Schichten interessant. Die Folge sind Miet- und Kostensteigerungen im Wohnumfeld, die die Ärmeren vertreiben, die den Stadtteil durchmischen.
Das Beispiel St. Georg
Nachzuvollziehen ist ein solcher Prozess für St. Georg. Noch vor Jahren galt dieser Stadtteil als eher arm. Gentrifizierung führte dazu, dass die Bevölkerungszahl zwischen 1992 und 2005 auf 60 Prozent ihres ursprünglichen Werts sank. Weggezogen sind v.a. die kinderreichen Familien mit Migrationshintergrund. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 18 sank auf 30 Prozent seines Werts von 1992. Zugezogen sind demgegenüber vor allem besser verdienende Kleinst- oder Ein-Personenhaushalte. Für die Lange Reihe weitgehend abgeschlossen, tobt sich dieser Kampf am Steindamm noch in harten Kulturkonflikten aus.
Doch gemessen an seiner Fläche ist Wilhelmsburg 16 Mal so groß wie St. Georg. Der Stadtteil umfasst die unterschiedlichsten Gegenden: das alte Reiherstiegviertel mit seiner schönen, alten Bausubstanz, davon südlich gelegen eher eintönige Blockbauten (jetzt Weltquartier genannt), in der Mitte sind es Wohnbebauungen im Stil der sechziger Jahre. Dann folgen Einzelhaussiedlungen, die Hochaussiedlung Kirchdorf Süd, mit allein etwa 5000 Einwohnern und das eher ländlich geprägte Moorwerder. Rund ein Drittel unserer Insel wird von der Hafenwirtschaft kontrolliert. Sie betrachtet den Stadtteil als eine große Logistik-, Lager- und Verkehrsdrehscheibe.
Gentrifzierung in Wilhelmsburg
Manches spricht dafür, dass deshalb die Gentrifizierung anders als in St. Georg stattfinden wird: durch Aufteilungen und Polarisierungen auch innerhalb des Viertels. Von der Aufwertung werden vor allem die Menschen im Reiherstiegviertel betroffen sein. Die Mitte scheint hingegen als eine Art Verbindungslinie zwischen der City Süd und dem Harburger Binnenhafen für eine neue Kommerz- und Bürostadt interessant. Betroffen von beiden Entwicklungen wären rund 25000 Menschen.
Die Elbinsel sei ein Raum mit enormen landschaftlichen, klimatischen und historischen Qualitäten, sagt der Stadtplaner Uli Hellwig. Stadtplanungsprofessor Dieter Läpple von der TU in Harburg, sieht Wilhelmsburg als neuen Boom-Stadtteil. Soziale Stigmatisierung müsse dafür mit neuen Restaurants, konsumorientierten Dienstleistungen und sauberen Manufakturen überwunden werden. Solche Maßnahmen führen dazu, dass wir das verdrängen, was wir dort nicht wollen, sagte hingegen der heutige CDU-Landesvorsitzende Michael Freytag noch vor einigen Jahren zu den Entwicklungen in St. Georg.
Die begonnene Debatte soll am 31. Januar mir einer Diskussion zu den Entwicklungen im Hafen und ihren Rückwirkungen auf den Stadtteil fortgesetzt werden. Eingeladen ist dafür ein Referent von Rettet die Elbe. Beginn 19:00 Uhr in einem Gruppenraum des Bürgerhauses Wilhelmsburg. Nähere Infos unter: www.wilhelmsburg.blog.de
Verwendung: Lokalberichte Hamburg, Nr. 1 2008, Printausgabe Seite 11
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10. November 2007
Hamburg. Bereits zum siebten Mal findet am heutigen Samstag der Hamburger Bettlermarsch statt. Erneut soll so auf die Situation der Armen und Obdachlosen aufmerksam gemacht werden, erklärte Margit Wolf, Geschäftsführerin der Obdachloseneinrichtung »CaFée mit Herz« und Sprecherin der Bettlermarsch-Initiative. In diesem Jahr habe man sich im Vorbereitungskreis die Frage gestellt, ob die zunehmende Armut inzwischen nicht sogar »politisch erwünscht« sei. Wolf verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß allein in Hamburg jeden Tag acht Wohnungen zwangsweise geräumt werden.
Der jährliche Aufmarsch, der von St. Pauli quer durch die Innenstadt führt, war 2001 initiiert worden, weil der damalige Innensenator Ronald Barnabas Schill Bettler und andere Arme aus der Innenstadt vertreiben wollte. Seitdem setzt der Marsch ein jährliches Zeichen der Solidarität hier ein Foto von 2006. Heute werden dabei die Forderungen nach einer »deutlichen Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes« und einem Mindestlohn »nicht unter acht Euro« im Mittelpunkt stehen. (ag/jW)
Beginn 13 Uhr, Spielbudenplatz auf der Reeperbahn
Verwendung: Junge Welt vom 10. November 2007
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02. Oktober 2007
Hamburg. Die Hamburger Linkspartei hat am Wochenende ihre Kandidatenliste für die am 24. Februar 2008 stattfindenden Bürgerschaftswahlen bestimmtt. Streng nach Geschlecht quotiert wählten die etwa 100 Delegierten 21 Kandidatinnen und Kandidaten für das Landesparlament. Spitzenkandidatin ist die Lehrerin Dora Heyenn. Ihr folgen auf den weiteren Plätzen der Sozialwissenschaftler Joachim Bischoff, Linkspartei-Landessprecherin Christiane Schneider, Erwerbslosenvertreter Wolfgang Joithe, die Bauer-Betriebsrätin Kersten Artus, Mehmet Yildiz von der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF), die Iranerin Zaman Masudi und der frühere Regenbogen-Abgeordnete Norbert Hackbusch. DKP-Landeschef Olaf Harms kam auf Platz zehn der Landeslistet. Bei einem Wahlergebnis oberhalb von acht Prozent würde er wahrscheinlich in das Landesparlament einziehen. (jW)
Verwendung: Junge Welt vom 2. Oktober 2007
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01. Oktober 2007
Hamburger LINKE-Parteitag lehnt Regierungsbeteiligung ab
Hamburgs LINKE wird in den Wahlkampf für die Bürgerschaftswahlen im Februar 2008 mit einem klaren Oppositionsverständnis und einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption eingreifen. So jedenfalls beschlossen es die etwa 130 Delegierten am späten Samstagabend und nach rund 13-stündiger Parteitagsdebatte.
Einstimmig wurde das Wahlprogramm beschlossen, mit überwältigender Mehrheit der Wahlaufruf »Veränderung beginnt mit Opposition«. In diesem beschlossen die Vertreter der etwa 1000 Hamburger Parteimitglieder, dass sie nur als Oppositionskraft zur Verfügung stehen werden.
Nach einem Einzug in das Parlament werde man jedenfalls nicht das »Zünglein an der Waage« sein. Denn die Wahl eines anderen Bürgermeisters als des amtierenden Amtsinhabers Ole von Beust (CDU) werde es mit der LINKEN nur geben, wenn sich der auf das Sofortprogramm der LINKEN beziehe und sich auch dazu verpflichte, es umzusetzen. Nur als Oppositionskraft werde sich die Hamburger Linke gegen weiteren Sozialabbau, gegen weitere Privatisierungen und die Kürzungen im Bildungs-, Kultur-, Jugend- und Sozialbereich wehren.
Das bestätigte auch Bundesparteichef Oskar Lafontaine, der sich in seiner Rede gegen jegliche Kungeleien mit dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Michael Naumann ausgesprochen hatte. Denn dieser sei ein Befürworter dessen, womit es durch die LINKEN niemals Frieden geben dürfe: Hartz IV, dem Sozial- und Rentenklau. Mit Blick auf den Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) setzte sich dann Lafontaine vor allem für eine Stärkung von Volksentscheiden ein. Denn Demokratie heiße, dass sich »die Interessen der Mehrheit bei politischen Entscheidungen« nicht aber nur die »Minderheit der Abgeordneten« durchsetzten müsse.
Dass es für die Hamburger LINKE einen Frieden mit Hartz IV nicht geben kann, wurde indes schon vor Beginn des zweitägigen Parteitags deutlich. Denn ursprünglich hatte der Landesvorstand ein neues und öffentlich gefördertes Beschäftigungsprogramm vorgeschlagen, das sich in seiner Umsetzung auf die im Sozialgesetzbuch II als Alternative zu den Ein-Euro-Jobs vorgesehenen »Arbeitsgelegenheiten« mit der sogenannten Entgelt variante bezog. Dies aber stieß bei der parteiinternen Arbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut« auf heftigen Protest. Sie lehnte Arbeitsgelegenheiten grundsätzlich ab und sprach von einem »staatlich exekutierten Arbeitszwang«. Dem aber schlossen sich schließlich auch die Antragskommission und der Landesvorstand an. Die LINKE fordert, dass es ein solches Beschäftigungsprogramm nur auf der Grundlage aller tarif-, sozial- und arbeitsrechtlichen Standards geben könne.
Heftige Konflikte traten indes bei der Wahl der Kandidatenliste für die Bürgerschaftswahlen auf. Denn für die ersten acht Plätze kandidierten rund 30 Bewerber. Zu einer regelrechten Kampfkandidatur kam es dabei schon um Platz eins. Doch allen Unkenrufen zum Trotz konnte sich hier die schon seit Wochen als Spitzenkandidatin gehandelte, ehemalige SPD-Frau und 58-jährige Lehrerin Dora Hayenn relativ klar gegen ihre Gegenkandidatin aus dem linken Parteilager, der 60-jährigen Iranerin Zaman Masudi durchsetzen. Hayenn erhielt 48 von insgesamt 87 gültigen Stimmen, während für Masudi nur 27 Delegierte votierten.
Gekämpft wurde auch um die weiteren Plätze, auf denen sich schließlich der Sozialwissenschaftler Joachim Bischoff für Listenplatz zwei, Linkspartei-Landessprecherin Christiane Schneider für Listenplatz drei durchsetzen konnten. Für Platz vier gilt die Wahl des 57-jährigen Erwerbslosenvertreters Wolfgang Joithe als sicher. Letzteres ist die eigentliche Überraschung des Parteitages, denn der ehemalige EDV-Systembetreuer gilt bei den Hamburger LINKEN als New-Comer. Die weiteren Wahlen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.
Verwendung: Printausgabe Neues Deutschland vom 01. Oktober 2007
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01. Oktober 2007
Hamburger Linkspartei stimmte über Landesliste zur Bürgerschaftswahl ab. Klare Absage an Regierungsbeteiligung
Bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen am 24. Februar 2008 geht die 58jährige ehemalige schleswig-holsteinische SPD-Landstagsabgeordnete Dora Heyenn für Die Linke als Spitzenkandidatin ins Rennen. Am Sonntag konnte sich die Vertreterin des »Realo-Flügels« in der Hamburger Linken in einer Kampfkandidatur gegen die 1947 im Iran geborene Diplom-Psychologin Zaman Masudi vom linken Parteiflügel durchsetzen. Von 87 abgegebenen Stimmen bekam Heyenn 48, Masudi lediglich 27.
Am Samstag beschlossen die Delegierten, daß die Partei auch im Parlament an ihrer Oppositionshaltung festzuhalten habe. Mit großer Mehrheit votierten sie dafür, eine Regierungsbeteiligung nach den Wahlen grundsätzlich abzulehnen. Selbst, wenn nur mit Unterstützung der Linken die Wahl eines SPD-Bürgermeisters möglich wäre, gebe es diese nur, wenn die SPD das Sofortprogramm der Linken anerkenne und umsetze. Dies sei nicht verhandelbar, heißt es in einem mit großer Mehrheit gefaßten Beschluß.
Das war so nicht geplant: Der Vorstand der rund 1 300 Mitglieder starken Landespartei hatte in dem Resolutionsentwurf zunächst formuliert, daß Zweckbündnisse mit SPD und Grünen durchaus möglich sind. Dagegen stand ein Antrag von Ex-PDS-Landessprecher Horst Bethge, der die Unterstützung zahlreicher Delegierten fand. Erst kurz vor Beginn des Parteitages änderte der Vorstand seine Resolution und integrierte die von Bethge entzwickelten Positionen in den Antragstext.
Um inhaltlichen Streit auf dem Parteitag zu vermeiden, ist die von Landessprecher Berno Schuckart repräsentierte Vorstandsmehrheit auch beim »Landesprogramm Arbeit« eingeknickt. Ursprünglich hatte der Vorstand darin gefordert, im Rahmen eines neuen und »öffentlich geförderten« Beschäftigungssektors auch Arbeitsgelegenheiten nach der sogenannten Entgeltvariante des Sozialgesetzbuches II einzurichten. Dem widersprach die parteiinterne Erwerbslosenarbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut«. Deren Vertreter sehen in der Durchsetzung einer solchen Forderung die »Fortsetzung der Repressionsspirale gegenüber Erwerbslosen«. Um den Krach nicht eskalieren zu lassen, wurde wenige Minuten vor Beginn des Parteitags »grünes Licht« für deren Gegenpositionen erteilt. Der Parteitag beschloß schließlich ein Kompromißpapier, in dem es nun heißt, daß mit einem Beschäftigungsprogramm nur reguläre Stellen eingerichtet werden sollen. Diese müßten die gegebenen tarif-, sozial- und arbeitsrechtlichen Standards voll erfüllen, heißt es in dem Beschluß.
Somit stehen die inhaltlichen Entscheidungen im Gegensatz zu dem schlechten Abschneiden der Parteilinken Masudi bei ihrer Kandidatur für die Spitze der Landesliste. Umkämpft waren auch die weiteren Listenplätze. Durchsetzen konnten sich dabei bis zum jW-Redaktionschluß der Sozialwissenschaftler Joachim Bischoff für Listenplatz 2 und Linkspartei-Landessprecherin Christiane Schneider für Platz 3. Im Rennen um weitere Plätze waren neben Wolfgang Joithe, dem Vertreter der Arbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut«, auch Olaf Harms, Bezirksvorsitzender der DKP, und der parteilose Student Florian Wilde.
Verwendung: Junge Welt vom 1. Oktober 2007
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28. September 2007
Weichenstellungen für Bürgerschaftswahl im Februar 2008
Dem Hamburger Landesverband der Partei DIE LINKE steht am Wochenende ein schwieriger Parteitag bevor. Denn unter dem Tenor »Hamburg für alle sozial, ökologisch und solidarisch« geht es um wichtige Weichenstellungen für die Bürgerschaftswahlen im Februar 2008.
Heftig umstritten ist bisher fast alles: die Liste der Bürgerschaftskandidaten, aber auch das Wahlprogramm. Besonders erregt ist die Debatte schon im Vorfeld über ein neues »Landesprogramm Arbeit«, mit dem die LINKE möglichst viele Erwerbslose in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bringen will. Abseits der von Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) bisher geförderten Ein-Euro-Jobs im Rahmen eines »öffentlich geförderten«, aber privat organisierten Beschäftigungssektors.
Ausgerechnet die parteiinterne Erwerbslosenarbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut« lehnt dieses Programm grundsätzlich ab. Sie argumentiert, dass unter der Geltung des Sozialgesetzbuches II auch Arbeitsgelegenheiten nach der sogenannten Entgeltvariante zu einem »staatlich exekutierten Arbeitszwang« führen würden. »Arbeitsgelegenheiten bleiben eben Arbeitsgelegenheiten«, so AG-Sprecher Wolfgang Joithe, der damit auf die fehlenden Arbeitsverträge, auf die Rechtlosigkeit der Beschäftigten, auf das niedrige Lohnniveau und die Perspektivlosigkeit solcher Maßnahmen verweist. Bemängelt wird zudem, dass jeder, der dafür Zuschüsse aus der Bundesagentur für Arbeit annehme, damit auch die »Repressionsspirale« des SGB II hinnehmen müsse.
»Sonst gibt es nämlich aus Nürnberg kein Geld«, sagt auch der Soziologe Thomas Meese. Statt über einen zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, rät er der Linken über die Schaffung neuer Stellen im öffentlichen Dienst zu diskutieren. Denn es gebe im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Kulturbereich genügend Arbeit.
Kurz- und mittelfristig sei das aber kaum durchsetzbar, sagt dazu Parteisprecher Björn Radcke. Er forderte nun Kompromisslösungen, denn auch die Programmkommission sieht ihre Formulierungen »nur als Übergangsstufe zu einer Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen«. Doch einschränkend heißt es in ihrem Papier, dass die eigentliche Aufgabe des öffentlichen Dienstes eben nicht darin liege, beschäftigungspolitische Aufgaben zu übernehmen. Ohne freie Träger ginge es deshalb nicht.
Um diesen nun aus dem zunehmenden Wettbewerbdruck herauszuhelfen, müssten sie ebenfalls aus Landesmitteln gefördert werden. Doch über die Vergabe solcher Maßnahmen, lautet der nächste Einspruch, werde gar nicht in Hamburg, sondern in den Regionalagenturen und nach Maßgabe des Preises einer Maßnahme entschieden.
Insgesamt liegen dem Parteitag 76 Änderungsanträge zum Entwurf des Wahlprogramms vor. Konflikte gibt es dabei auch zu bildungs-, hochschul- und kulturpolitischen Fragen. Die Antragskommission plädiert deshalb dafür, dass diese Streitfragen auf dem Parteitag zwar diskutiert, aber nicht entschieden werden.
Damit wäre der Zoff freilich nicht vom Tisch. Denn schon um Platz eins der Landesliste zur Wahl deutet sich seit Tagen eine Kampfkandidatur zwischen der Ex-Sozialdemokratin und früheren schleswig-holsteinischen Landtagsabgeordneten Dora Heyen und der zum linken Parteiflügel gehörigen Iranerin Zaman Masudi an. Nicht weniger heftig wird um die Plätze zwei bis acht gekämpft, denn diese gelten bei einem Wahlergebnis von sieben bis acht Prozent als relativ sichere Tickets ins Parlament. Das zu glätten, wird auch für Parteichef Oskar Lafontaine keine leichte Aufgabe sein. Er will bereits am Samstagmittag zu den 130 Delegierten sprechen.
Verwendung: Neues Deutschland vom 28. September 2007
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2 Kommentare
28. September 2007
Die Linke in Hamburg zieht in den Bürgerschaftswahlkampf – aber mit wem? Vor dem Parteitag an diesem Wochenende sind drei mögliche Spitzenkandidatinnen im Gespräch. Auch um die weiteren Listenplätze dürfte kräftig gerangelt werden
„Hamburg für alle – sozial, ökologisch und solidarisch“: Unter diesen Motto wird die Linke ab morgen auf ihrem zweitägigen Parteitag den Bürgerschaftswahlkampf einleiten. Doch wird es in Farmsen, wo am Samstagmittag auch Parteichef Oskar Lafontaine sprechen soll, besonders solidarisch zugehen? Konfliktstoff gibt es genug. So konnte sich der Vorstand der in Hamburg 1.300 Mitglieder zählenden Partei bislang noch nicht mal auf eine Spitzenkandidatin einigen.
Seit Wochen ist die 58-jährige Lehrerin Dora Heyenn, die fast 28 Jahre lang Mitglied der SPD war und für die Partei auch als Abgeordnete im Kieler Landtag saß, als Zugpferd im Gespräch. Antreten will sie „hundertprozentig“: Nach eigener Einschätzung kann Heyenn ehemalige SPD-Wähler erreichen. Doch es gibt Bedenken: Manchen ihrer neuen Genossen gilt Heyenn als Karrieristin, und einige fürchten, dass die Pragmatikerin sehr schnell Bündnisse mit ihrer alten Partei oder den Grünen anstreben dürfte. Auf dem Juli-Parteitag fiel sie bei den Vorstandswahlen denn auch glatt durch.
Gegenüber der taz stellt die Kandidatin zwar klar, dass „Opposition etwas Ehrenhaftes“ sei, sagt aber im selben Atemzug, dass die Frage von Tolerierungen oder gar Koalitionen nicht „prinzipiell“, sondern nur „inhaltlich“ beantwortet werden könne. Der Maßstab für punktuelle Bündnisse mit Rot-Grün sei, ob damit „Verbesserungen für die Lebensperspektive der vom Wohlstand abgespaltenen Bevölkerung“ erreicht werden könnten.
Als Alternativen zu Heyenn werden vor dem Parteitag die Diplom-Psychologin Zaman Masudi und die Journalistin Kersten Artus gehandelt. Die seit 1971 in Deutschland lebende gebürtige Iranerin Masudi würde sich in der Bürgerschaft vor allem für „soziale Gerechtigkeit“ und besonders für die Rechte der MigrantInnen und Flüchtlingen einsetzen. Artus, Betriebsrätin des Bauer-Verlags, gilt als ausgewiesen teamfähig. Doch beide Frauen besitzen ihren innerparteilichen Kritikern zufolge „zu wenig Charisma und wirtschaftspolitische Kompetenz“, um die Partei in den Wahlkampf zu führen.
Kräftig gerangelt wird auch um die weiteren Plätze. Weil die Liste geschlechterquotiert sein soll, können sich die bisher 21 männlichen Bewerber nur auf vier der als aussichtsreich erachteten Listenplätze bewerben. Chancen werden dem Sozialwissenschaftler Joachim Bischoff, dem Erwerbslosenvertreter Wolfgang Joithe, Parteisprecher Herbert Schulz und dem früheren Regenbogen-Abgeordneten Norbert Hackbusch eingeräumt. Als sicher gilt, dass Linkspartei-Landessprecherin Christiane Schneider Platz 3 bekommt.
Für Konfliktstoff ist auch auf der am Tag vor der Kandidatinnenkür geführten Wahlprogrammdebatte gesorgt: Umstritten ist hier vor allem der Text der Programmkommission zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der einen neuen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor abseits der Ein-Euro-Jobs stark machen soll. Diese Strategie trifft auf innerparteilichen Widerstand: Demnach soll der „Sumpf aus dubiosen Beschäftigungsträgern“ ausgetrocknet und durch einen Ausbau öffentlicher Dienste ersetzt werden.
Sa + So, ab 10 Uhr, Berufsförderungswerk Farmsen, August-Krogmann-Str. 52. Infos: www.hier-ist-die-linke-hamburg.de
Verwendung: taz hamburg vom 28. September 2007
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27. September 2007
Landesparteitag: Hamburger Linkspartei diskutiert über Alternativen zu Ein-Euro-Jobs. Ein Gespräch mit Thomas Meese
Der Soziologe Thomas Meese engagiert sich als Parteiloser in der Hamburger Arbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut« der Partei Die Linke
Auf dem am Wochenende stattfindenden Landesparteitag der Hamburger Linken drohen heftige Kontroversen. Umstritten ist eine Passage aus dem Entwurf zum Wahlprogramm nach der Die Linke für den Ausbau eines neuen und öffentlich geförderten Beschäftigungssektors eintreten will. Sie nennen das die Fortsetzung »schmutziger Geschäfte« mit Erwerbslosen. Warum?
Ganz gezielt und schon seit Anfang der 90er Jahre wurden auch in Hamburg immer mehr Stellen im öffentlichen Bereich abgebaut. Das heißt, daß die jetzt vorhandene Erwerbslosigkeit nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Gründe hat. Von der Politik wird immer so getan, als sei die hohe Arbeitslosigkeit vor allem das Problem der Betroffenen. Diese müßten durch sogenannte Trainings- oder andere Repressionsmaßnahmen wieder fit gemacht werden, heißt es. Dieser auch in das Sozialgesetzbuch gegossene Geist besagt zudem, daß die Erwerbslosen dazu gezwungen werden dürfen, jede Art von Beschäftigung egal wie sie aussieht oder bezahlt wird anzunehmen.
Wenn das jetzt durch Die Linke aufgegriffen wird sie will die bisherigen Ein-Euro-Jobs durch Arbeitgelegenheiten nach der sogenannten Entgeltvariante ersetzen , dann finde ich das skandalös. Denn auch das sind schlecht bezahlte und irreguläre Zwangsarbeiten. Sie dienen gleichzeitig dazu, tariflich gesicherte und reguläre Arbeitsverhältnisse immer weiter zu verdrängen.
Die Autoren des Programms betonen aber, daß es auch ihr Ziel sei, die Langzeitarbeitslosen in tariflich geschützte und reguläre Arbeitsverhältnisse zu integrieren. Was müßte aus Ihrer Sicht passieren?
Wenn man die Erwerbslosen in reguläre Arbeitsverhältnisse dauerhaft integrieren will, dann ist das das richtige Ziel. Doch uns stellt sich die Frage, warum man den Umweg über einen öffentlich geförderten, aber privat organisierten Beschäftigungssektor gehen muß? Neue Stellen für Erwerbslose könnten doch direkt im öffentlichen Dienst oder im öffentlichen Bereich entstehen.
Solche Stellen würde die Bundesagentur für Arbeit (BA) aber nicht bezuschussen.
Das ist richtig. Doch wer sich der Logik eines zweiten oder gar dritten Arbeitsmarktes unterwirft, der muß sich sagen lassen, daß er sich damit in der politischen Zielrichtung der Agenda 2010 bewegt. Die Mittel von der Bundesagentur erhält man nur, wenn man auch die Repressionsspirale des Sozialgesetzbuches anerkennt. Gleichzeitig wächst damit der Druck, prekäre Beschäftigung und Niedriglohnbereiche immer mehr als Normalzustand anzuerkennen. Auch die Stellen in der sogenannten Entgeltvariante sind völlig rechtlose Arbeitsverhältnisse. Sie führen noch nicht einmal dazu, daß ein Neuanspruch auf Bezug des Arbeitslosengeldes I entsteht.
Eine emanzipatorische neue Linke darf sich niemals daran beteiligen, die rechtlichen und sozialen Standards der Normalarbeitsverhältnisse zu beseitigen. Unsere Haltung muß sein: Schluß damit!
Aber wie ist zusätzliche und öffentliche Beschäftigung ohne Zuschüsse der BA zu finanzieren?
Ich wiederhole: Wer sich auf solche Geschäfte einläßt, der nimmt damit auch die weitgehende Rechtlosigkeit der so entstehenden Arbeitsverhältnisse und den gesamten Repressionsapparat des Sozialgesetzbuches in Kauf. Die Linke sollte statt dessen betonen, daß das Recht auf gleichwertige Arbeit gleiche Entlohnung und gleiche Bedingungen einschließt. Das gilt laut Grundgesetz und Völkerrecht auch für Erwerbslose. Wie solche Stellen dann zu finanzieren sind, das ist erst die nächste Frage. Daß es aber auch auf lokaler Ebene möglich ist, zeigt zum Beispiel das skandinavische Modell.
Was erwarten Sie vom Hamburger Landesparteitag?
Ich erwarte, daß sich die Delegierten mit den Alternativvorstellungen unserer Arbeitsgemeinschaft auseinandersetzen. Ich erwarte, daß sie alles verwerfen, was auf eine weitere Entrechtung der Erwerbslosen oder die weitere Beförderung der Hartz-IV-Repressionsspirale hinausläuft. Das wäre für mich auch ein Kriterium dafür, ob Die Linke bei den Bürgerschaftswahlen wirklich wählbar ist.
Verwendung: Junge Welt vom 27. September 2007
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05. September 2007
Bremen: Erwerbslosen- und Sozialverbände rufen zu Demonstration gegen geringe Mietzuschüsse und Zwangsumzüge auf. Warnung vor Bruch von Wahlversprechen
Zu einer Demonstration »gegen die drohende Verarmung von Zehntausenden« rufen für den morgigen Donnerstag Erwerbsloseninitiativen und Sozialverbände in Bremen auf. Die am Nachmittag beginnende Demonstration soll zum Sitz der Sozialdeputation führen, denn dort wollen die Senatsparteien SPD und Grüne durchsetzen, daß die Mietobergrenzen für Bezieher des Arbeitslosengeldes II nur geringfügig angehoben werden. Noch vor einigen Monaten, im Wahlkampf zur Bremer Bürgerschaft, hatten Grüne und SPD angekündigt, die Beträge, bis zu denen die Wohnkosten vollständig gezahlt werden, nicht nur geringfügig, sondern um 20 Prozent zu erhöhen. Die Initiativen werfen den Senatsparteien deshalb vor, ihre Wahlversprechen gebrochen zu haben.
Dem widersprach Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD). Durch die Anhebung der Obergrenzen sei der »entscheidende Schritt« getan, um die Zahl der in der Hansestadt von Zwangsumzügen betroffenen Haushalte »drastisch zu reduzieren«. Weil sie die Mietobergrenzen für erwerbslose Einzelpersonenhaushalte von bisher 265 auf 310 Euro erhöhen will, rechnet Rosenkötter mit einer Halbierung der bisher rund 9000 Fälle pro Jahr, in denen die Betroffenen zum Umzug gezwungen waren. Doch genau dies bezweifeln die Sozialinitiativen. Sie verweisen darauf, daß für zwei- bis dreiköpfige Haushalte die Sätze nur um bis zu 15 Euro gesteigert werden sollen. Und für Großfamilien ab fünf Personen sei sogar eine Absenkung der monatlichen Sätze um bis zu 30 Euro geplant. Das aber dürfe nicht sein, fordert auch die Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke. Sie fürchtet, daß gerade die sozial Schwächsten besonders benachteiligt werden.
Noch deutlicher wird der Sozialberater Herbert Thomsen von der »Solidarischen Hilfe«, der den Senatsplan am Dienstag verurteilte. Thomsen kritisiert, mit der Neuregelung werde suggeriert, daß sich dadurch ein größerer Spielraum bei Neuanmietungen ergebe. Er forderte die Einhaltung der Wahlversprechen und die Zugrundelegung der tatsächlich auf dem Bremer Wohnungsmarkt gegebenen Miet- und Heizkosten. Die Linke beantragte in der Bürgerschaft, daß auf Zwangsumzüge künftig gänzlich verzichtet werden soll.
Die Demo beginnt am Donnerstag um 14 Uhr am Bahnhofsvorplatz in Bremen
Verwendung: Junge Welt vom 5. September 2007
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30. August 2007
Hamburgs Erwerbslose wurden ausgeschnüffelt. »Aufwandsentschädigung« half den Datensammlern. Ein Gespräch mit Wolfgang Joithe
Wolfgang Joithe ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft »Arbeit und Armut« der Partei Die Linke in Hamburg und Mitbegründer des Erwerbslosenselbsthilfevereins »PenG! Aktive Erwerbslose und Geringverdiener«
In Hamburg hat die Wirtschaftsbehörde für rund 790000 Euro eine umfangreiche Befragungsaktion zur Erstellung eines »soziologischen und psychologischen Profils« von Erwerbslosen durchgeführt. Was genau wurde gemacht?
Auf der Grundlage eines neunseitigen Fragebogens wurden seit Mai dieses Jahres fast 2 200 ALG-II-Bezieher interviewt. Wir Erwerbslosen sind von den Erfindern und Durchsetzern der Hartz-IV-Gesetze inzwischen einiges gewöhnt. Doch diese Befragungsaktion ist der Gipfel der Unverschämtheit. Neben der täglichen Ausschnüffelung des Privatlebens sollen Hartz-IV-Geschädigte nun auch noch Auskunft darüber geben, ob sie Sympathien für die ehemalige DDR hegen, ob sie Gewalt verherrlichende Filme sehen oder gerne exotische Gerichte essen oder ob sie es wichtig finden, daß eine Liebe ein ganzes Leben hält. Das ist ein so ungeheures Ausmaß der Beschnüffelung, daß es selbst für die ARGE (Arbeitsgemeinschaften zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II) völlig neue Maßstäbe setzt.
Es wurde auch danach gefragt, ob Gewalt als ein legitimes Mittel für die Durchsetzung eigener Ziele betrachtet wird. Sollen Erwerbslose kriminalisiert werden?
Meines Erachtens verfolgen diese vielen Fragen, die sich in erster Linie um Familie, Freizeit, Eß- und Lebensgewohnheiten drehen, zunächst das Ziel, einen Leistungsmißbrauch zu konstruieren bzw. zu unterstellen. Darin ist die ARGE in Hamburg sehr erfahren.
Daß einige der Fragen des von einem Berliner Meinungsforschungsinstitut entwickelten Bogens völlig überzogen sind, hat inzwischen auch Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) eingestanden. Er hat die Befragung zunächst gestoppt. Nicht ohne den Verweis, daß die Teilnahme an der Befragung »freiwillig« gewesen und die Auswertung anonymisiert worden sei.
Dem widerspricht, daß auf dem Fragebogen die Kundennummer für den einzelnen Erwerbslosen notiert wurde. Nur so kann ja auch ein Psychogram für den einzelnen erstellt werden. Auch die sogenannte Freiwilligkeit muß angezweifelt werden, wenn man die vorhandene Angst vieler Hartz-IV-Geschädigter vor weiteren Repressalien berücksichtigt. Zudem wurde mit einer sogenannten Aufwandsentschädigung von 20 bis maximal 65 Euro nachgeholfen. Das ist für einen Hartz-Geschädigten viel Geld. Die Behörde hat inzwischen selbst angegeben, daß sie andernfalls ihr Ziel, rund 2 500 ALG-II-Beziher durch die Befragung zu erfassen, nicht erreicht hätte. Hinzu kommt, daß die von seriösen Meinungsforschungsinstituten bekannte Möglichkeit, auf einzelne Fragen in einem Fragebogen nicht antworten zu müssen, hier nicht einmal theoretisch vorhanden ist. Ausdrücklich werden die Erwerbslosen dazu aufgefordert, alle Fragen zu beantworten.
Unverschämt ist auch die Bemerkung von Uldall, was die sogenannten Fördermöglichkeiten betrifft. Hamburg hat fast alle Förder- und Qualifizierungsmöglichkeiten, die es für Erwerbslose gab, auf Eis gelegt. Favorisiert wird die Vermittlung von Ein-Euro-Jobs, die immer mehr reguläre Arbeitsplätze verdrängen.
Worum geht es aber dann?
Um den gläsernen Menschen, der dann der Willkür seiner Fallmanager vollständig ausgeliefert ist. Das aber verstößt ganz eindeutig gegen die bestehenden Datenschutzgesetze.
Trotzdem hat Uldall jetzt angekündigt, das bereits erhobene Datenmaterial vollständig auszuwerten
Daß die Umsetzer der Hartz-IV-Gesetze nicht demokratisch ticken, ist inzwischen hinreichend bekannt. Die nachgewiesene Kriminalität des Namensgebers dieser Gesetze scheint auch auf jene abzufärben, die seine Claqueure waren und noch sind. Diese Fragebögen müssen sofort eingestampft werden. Sie verstoßen gegen geltendes Recht. Und die Verantwortlichen dieser Aktion müssen rechtlich wie auch politisch zur Verantwortung gezogen werden. In der Wirtschaftsbehörde und in der ARGE muß sich endlich herumsprechen, daß deren »Kunden« Menschen sind und daß Menschenrechte auch und gerade für Erwerbslose gelten.
Verwendung: Junge Welt vom 30. August 2007
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11. August 2007
strong>Hamburg: Ver.di-Landeschef freut, daß Die Linke DGB-Forderungen aufgreift, kandidiert aber für die SPD. Gespräch mit Wolfgang Rose
Wolfgang Rose ist Landesbezirksleiter der Gewerkschaft ver.di in Hamburg
Unter Ihrer Mitwirkung haben die Gewerkschaften Forderungen für die Bürgerschaftswahlen im Februar 2008 vorgelegt. Demnach sollen Ein-Euro-Jobs durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt, die Privatisierungen gestoppt und ein neues integriertes Schulsystem eingeführt werden. Gefordert werden die Streichung der Studiengebühren, die Stärkung der Mitbestimmungsrechte und mehr Geld für Soziales. Von den Parteien vertritt das nur Die Linke. Sie selbst kandidieren für die SPD. Macht Ihnen das keine Schwierigkeiten?
Überhaupt nicht. Denn wenn Die Linke unsere nun schon vor Monaten erarbeiteten Forderungen einfach übernimmt, dann kann ich als Gewerkschafter da doch nichts dagegen haben. Im übrigen wird über diese Punkte auch bei der SPD und über manche auch bei der Grün-Alternativen Liste, GAL, beraten.
Doch als Abgeordneter der SPD werden Sie eine Politik vertreten müssen, die diesen Forderungen widerspricht.
Das sehe ich nicht so. Denn in einem Gespräch zwischen dem DGB und der Landesspitze der SPD konnten wir schon jetzt ein großes inhaltliches Einvernehmen feststellen.
Privatisierungsprojekte, wie etwa bei den Hamburgischen Elektrizitätswerken (HEW), gab es auch schon in der Regierungszeit der SPD. Und auch die Hartz-IV-Gesetze und die Ein-Euro-Jobs sind eine Erfindung der SPD.
Daß die Privatisierung der HEW ein Fehler war, ist inzwischen bei fast allen Parteien anerkannt. Doch heute haben wir es mit einer Situation zu tun, wo die SPD sowohl bei der Privatisierung des Landesbetriebs Krankenhäuser als auch bei der Privatisierung der Hamburger Hafen- und Logistik AG und auch bei der Hochbahn und den Altenpflegeheimen dem CDU-Senat energisch widerspricht. Daß wir als Gewerkschaften Hartz IV ablehnen, ist allgemein bekannt. Aber es steht als Bundesgesetz in Hamburg nicht zur Disposition. Doch der CDU-Senat hat sich in Hamburg entgegen dem Bundesgesetz ausschließlich auf 13000 Ein-Euro-Jobs konzentriert, alle anderen Beschäftigungsförderungs- und Weiterbildungsmaßnahmen wurden weitgehend liquidiert. Als Gewerkschaften fordern wir ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Ich denke, das wird im Wahlprogramm der SPD Verankerung finden.
Sie können doch nicht leugnen, daß es Widersprüche zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften gibt. So hat etwa SPD-Spitzenkandidat Michael Naumann die Forderung nach einer »Schule für alle« sofort in Frage gestellt. Und beim Mindestlohn verweigert er jegliche Konkretisierung bezüglich der Höhe. Sehr konkret wurde er hingegen, was Ihren künftigen Part in der Bürgerschaft anbetrifft: den eines »Korrektivs und Ermahners«. Das ist die typische Rolle eines vielleicht lauten, aber einflußlosen Jungsozialisten.
Sie können gerne weiterhin versuchen, fortwährend an Hand kleinster Meinungsunterschiede große Gegensätze zwischen den Gewerkschaften und der SPD in Hamburg aufzubauen. Daran beteilige ich mich nicht. Denn mir geht es darum, konkrete Verbesserungen für die Arbeitnehmer durchzusetzen. Beim Mindestlohn wie bei der Schulreform gab es in Gewerkschaft und Gesellschaft langwierige Diskussionsprozesse, die noch nicht zu Ende sind. Und diesbezüglich dann die Rolle eines Korrektivs oder eines Ermahners einzunehmen, um so gewerkschaftliche Positionen zu verankern, ist nicht ehrenrührig. Jedenfalls dann nicht, wenn es so gelingt, reale Verbesserungen für die Arbeitnehmer durchzusetzen.
Dann machen wir es konkret: Unmittelbar nach den Wahlen will Die Linke eine Bundesratsinitiative für einen Mindestlohn auf der Basis gewerkschaftlicher Forderungen in der Bürgerschaft beantragen. Werden Sie dem Antrag zustimmen, oder werden Sie sich der Fraktionsdisziplin unterwerfen?
Das werde ich heute noch nicht beantworten. Ich will beim Mindestlohn nicht nur recht haben, sondern ihn durchsetzen. Konkret wird dann zu berücksichtigen sein, welche Koalition nach den Wahlen möglich wird und wie es gelingt, Arbeitnehmerinteressen im Koalitionsvertrag und der Senatspolitik zu verankern. Denn dafür muß man Überzeugungsarbeit leisten, auch im Parlament. Wer hingegen nur plakative Forderungen aufstellt, der nützt den Arbeitnehmern nur wenig.
Verwendung: Junge Welt vom 11. August 2007
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14. Juni 2007
Dienstanweisung an ARGE-Mitarbeiter fordert dazu auf, Möglichkeiten zur preiswerten Nutzung des Nahverkehrs nicht bekanntzumachen
Zum 1. Juli wird es in Hamburg ein Sozialticket für Erwerbslose geben. Fahrgäste mit Wohnsitz in Hamburg, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld erhalten, können dann für ihre Tickets im öffentlichen Nahverkehr einen monatlichen Rabatt von fünf Euro beantragen. Das hatte der CDU-Senat Anfang des Jahres beschlossen, um wie er es darstellte den Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu entsprechen. Doch damit »der Arbeitsaufwand so gering wie möglich gehalten« wird, will die für die Betreuung Langzeitarbeitsloser zuständige ARGE das Sozialticket möglichst geheimhalten. Während jegliche Werbung dafür unterbleiben soll, werden entsprechende Anträge erst dann herausgegeben, wenn ein Erwerbsloser direkt danach fragt. So jedenfalls steht es in einer Dienstanweisung für die Fallmanager der ARGE, die das Hamburger Abendblatt jetzt auszugsweise veröffentlichte.
Dort heißt es u.a., daß die ARGE-Sachbearbeiter statt dessen auf den ebenfalls ab 1. Juli neu herausgegebenen Hamburger Familienpaß verweisen könnten. Denn auch dieser bringe für den öffentlichen Nahverkehr eine Einsparung von fünf Euro im Monat. Doch der Familienpaß kostet bei seiner Ausstellung Geld und ist für alleinstehende Erwerbslose außerdem nicht nutzbar.
»Wir kennen diese Dienstanweisung nicht«, so versuchte sich am Montag die Sprecherin der Sozialbehörde, Jasmin Eisenhut, aus der Affäre zu ziehen. Von einem »Büroversehen« sprach indes der Leiter der ARGE, Thomas Bösenberg (CDU). Die Dienstanweisung eines »übereifrigen Mitarbeiters« will er nun zurückziehen.
Das Ganze sei eh eine Mogelpackung, sagen hingegen Erwerbslosengruppen. Sie verweisen darauf, daß zum 1. Juli auch die Preise im Hamburger Nahverkehr deutlich angehoben werden, und zwar durchschnittlich um 3,5 Prozent. Doch das günstige CC-Ticket es berechtigt zur Nutzung der Verkehrsmittel zwischen neun und 16Uhr und dann erst wieder ab 18Uhr wird sogar um acht Prozent teurer. Dieses kostet dann selbst bei Einrechnung des Rabatts 41,50 Euro im Monat. Im Regelsatz eines Hartz-IV-Empfängers sind aber nur 18,11 Euro für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs vorgesehen. Ein wirkliches Sozialticket hat es in Hamburg nur bis 2003 gegeben. Es kostete 15,50 Euro im Monat und berechtigte Sozialgeld-Bezieher zur unbegrenzten Nutzung aller Verkehrsmittel.
Verwendung: Junge Welt vom 14. Juni 2007
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08. Juni 2007
Bremen: Grüne geben Widerstand gegen neues Kohlekraftwerk und Vertiefung der Weser auf
Ob Neubau eines Kohlekraftwerks, Bestätigung der Kürzungen bei der Hochschulfinanzierung oder Vertiefung der Weserfahrrinne es gibt offensichtlich kein »urgrünes« Thema, bei dem sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen in Bremen nicht durchgesetzt hat. Das geht aus dem Protokoll eines Spitzengespräches zwischen SPD-Bürgermeister Jens Böhrnsen und der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Karoline Linnert vom 19.Mai hervor, welches der taz mittlerweile vorliegt, die es Anfang der Woche auszugsweise veröffentlichte. Bei der Grünen-Basis der Hansestadt sorgte das Papier für erheblichen Unmut, so daß sich der Landesvorstand gezwungen sah, ein Rundschreiben an alle Mitglieder zu verschicken, in dem vor »Verratslegenden« gewarnt wird.
Doch die Echtheit des brisanten Protokolls bestreitet auch der Vorstand der Grünen nicht. Und dort steht schwarz auf weiß, daß weder die Rücknahme der Mittelkürzungen an den Hochschulen und der Fahrrinnenvertiefung, noch die Verhinderung eines neuen 900-Megawatt-Kohlekraftwerks im Stadtteil Mittelsbüren für Linnert noch ein Thema sind. All das aber waren »Wahlkampfschlager« der Partei.
Entsprechend sauer sind auch die niedersächsischen Grünen. Denn dort hatte die Partei im Kommunalwahlkampf versprochen, die Fahrrinnenvertiefung mit allen Mitteln verhindern zu wollen. Die Landtagsabgeordnete Ina Korter forderte deshalb nun ihre Bremer Parteifreunde auf, in dieser Frage hart zu bleiben. Entsetzen auch bei den Umweltschutzverbänden, die seit Jahren gegen dieses umweltzerstörende Projekt kämpfen.
Erfreuliches gibt es hingegen zum »Sozialen« zu berichten. Denn unter dem Druck des Wahlerfolgs der Linken, haben sich die Verhandlungsdelegationen von SPD und Grüne darauf geeinigt, nun mehr Geld für Kinder und Arbeitslose auszugeben. Selbst die Umwandlung einiger Ein-Euro-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ist im Gespräch. Doch eben diese Linke befürchtet nun, daß solche Maßnahmen mit Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst finanziert werden. »Wird neues Geld in die Hand genommen, oder spart man anderer Stelle im Haushalt«, diese Frage müsse endlich beantwortet werden, forderte Linkspartei-Landessprecherin Inga Nitz am Mittwoch.
Verwendung (zum Teil): Junge Welt vom 8. Juni 2007
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12. April 2007
Kundgebung vor Hamburger Beschäftigungsgesellschaft thematisiert gesetzwidrigen Umgang bei der Zuweisung von Ein-Euro-Jobs
Unter dem Motto »Weg mit Hartz IV Schluß mit der schikanösen Behandlung der Erwerbslosen« rufen Hamburger Erwerbsloseninitiativen für den heutigen Donnerstag zu einer Kundgebung vor der Zentrale der »Hamburger Arbeit und Beschäftigungsgesellschaft« (HAB) auf. Anlaß ist eine neue Regelung der Wirtschaftsbehörde, wonach nicht mehr die Fallmanager der ARGE, sondern die HAB selbst für die Zuweisung der Erwerbslosen auf Ein-Euro-Jobs zuständig sein soll. Dadurch werde das Sozialgesetzbuch eklatant verletzt, kritisieren die Initiativen. Die Zuweisung solcher »Jobs« sei laut Gesetz an »Eingliederungsvereinbarungen« zwischen der ARGE und dem Erwerbslosen gebunden.
Doch Hamburg hat das neue Verfahren eingeführt, um weitere Kosten bei der Verwaltung der Erwerbslosen zu sparen. Da aber die HAB selbst ein Beschäftigungsträger ist und davon lebt, möglichst viele solcher Jobs selbst zu erhalten, befürchten nun die Erwerbsloseninitiativen, daß es mit dem neuen Verfahren auch eine weitere Verschärfung im Umgang mit den Erwerbslosen gibt. Diese müßten dann jeden »Drecksjob« annehmen, bilanziert das Sozialforum im Stadtteil Eimsbüttel, das die Aktion initiiert hatte. Befürchtet wird außerdem, daß nun die Kriterien der Qualifizierung und der sogenannten »Zusätzlichkeit« überhaupt nicht mehr beachtet werden.
Kritik an dem Verfahren kommt aber auch von den Beschäftigungsträgern selbst. Sie fürchten, daß ein Mitkonkurrent die Verteilung so steuert, daß sie selbst dabei benachteiligt werden. Die Erwerbslosenaktion beginnt um 11.00 Uhr vor der Zentrale der HAB (Am Strohhaus 2).
Verwendung: Junge Welt
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12. April 2007
Datenschützer in Schleswig-Holstein kritisieren »unkontrollierte Datenerhebung« durch Hartz-IV-Behörden
In Schleswig-Holstein hat das »Unabhängige Landeszentrum für den Datenschutz« (ULD) heftige Kritik an den Arbeitsgemeinschaften nach SGB II (ARGE) geübt. Diese aus Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit und der kommunalen Sozialämter gebildeten Einrichtungen sind seit Einführung der Hartz-Gesetze in vielen Kommunen für die Leistungsgewährung und Förderung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher zuständig. Doch die damit verbundene Datenerhebung sei unkontrolliert und von zahlreichen Mißbräuchen gegenüber den Erwerbslosen gekennzeichnet, heißt es in einem jetzt vorliegenden ULD-Bericht. Handlungsbedarf sehen die Datenschützer vor allem bei den Hausbesuchen. Diese werden von den Hartz-IV-Behörden durchgeführt, um »eheähnliche Bedarfsgemeinschaften« aufzuspüren. Das sei zwar generell zulässig, heißt es, doch die dabei genutzten Observationsmethoden verletzten vielfach die gesetzlichen Datenschutzbestimmungen.
Anhand von Akten verschiedener Jobcenter war den Datenschützern zuvor aufgefallen, daß bei solchen Hausbesuchen, wenn die Betroffenen selbst nicht anzutreffen waren, auch die Briefkästen kontrolliert wurden. In weiteren Fällen wurden auch Nachbarn oder Minderjährige befragt und zwar, ohne dies den Erwerbslosen anschließend mitzuteilen. Dies sei ebenso unzulässig wie etwa der Einsatz von Videokameras oder das Durchwühlen verschlossener Schränke. Hausbesuche dürften generell nur als »letztes Mittel« einer Sachverhaltsaufklärung genutzt werden, mahnen die Datenschützer. Finden sie dennoch statt, müsse ihr Ablauf durch datenschutzkonforme Vorgaben genau geregelt sein.
Rechtsverstöße ähnlicher Art stellt der rund 180 Seiten starke Bericht auch im Bereich der Datenverarbeitung fest. Bemängelt wird, daß es kaum datenschutzkonforme Dienstanweisungen gebe. Bei einem Kontrollbesuch bei der ARGE in Lübeck seien deshalb in acht von zehn nach einem Zufallsprinzip gezogenen Akten schwerwiegende Datenschutzverletzungen festgestellt worden. Bemängelt wird vor allem, daß vielfach auch Daten aus dem persönlichen Umfeld von Erwerbslosen registriert werden. Gespeichert werden dürfe aber nur das, was für die Berechnung des Leistungsbezugs oder die Vermittlungsleistungen der ARGE unabdingbar sei. Mahnend hebt der Bericht hervor, daß die Weitergabe solcher personenbezogenen Daten an potentielle Arbeitgeber oder an sogenannte Maßnahmeträger, etwa im Bereich der Ein-Euro-Jobs oder des Bewerbungstrainings, nur dann zulässig ist, wenn die Erwerbslosen explizit ihr Einverständnis erklärt haben.
Das aber betrifft umgekehrt auch das sogenannte Profiling, mit dem Maßnahmeträger eine Vielzahl nicht nur fachlicher, sondern auch persönlicher Einschätzungen über Erwerbslose sammeln. Auch die Weitergabe solcher Daten habe keine Rechtsgrundlage, wenn der Erwerbslose diesem nicht ausdrücklich zustimmt. Besonders kurios ist für die Datenschützer jedoch der Umgang der Hartz-IV-Behörden mit mildtätigen Vereinen. Unter Androhung eines Bußgeldes waren solche Vereine, die etwa Kaffeemaschinen oder andere Sachspenden an Erwerbslose weitergereicht hatten, von den Hartz-IV-Behörden mehrfach angeschrieben worden, um generelle Angaben über diese Spenden zu erhalten. Auch dafür gebe es keine Rechtsgrundlage, wird kritisiert. Das ULD fordert deshalb die Ausarbeitung genauer und datenschutzkonformer Dienstanweisungen für alle Mitarbeiter in den Hartz-IV-Behörden.
Verwendung: Junge Welt
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02. April 2007
Bremen fordert Erwerbslose zur Mietminderung auf. Mietobergrenzen haben mit Realität nichts zu tun. Ein Gespräch mit Herbert Thomsen
Herbert Thomsen ist Sozialberater bei der Solidarischen Hilfe in Bremen
Seit Wochen protestieren Erwerbslose bei den Sitzungen des Sozialausschusses in der Bremer Bürgerschaft. Worum geht es?
Die für die Betreuung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher zuständige ARGE hat rund 6500 Erwerbslose angeschrieben und sie zu einer Senkung ihrer Mietkosten aufgefordert. Am besten durch Umzug in eine billigere Wohnung. Während sich die Zahl solcher Anschreiben in diesem Frühjahr noch verdoppeln soll, gibt es in Bremen pro Jahr maximal 1 000 freie Wohnungen, die den Angemessenheitskriterien der Behörde entsprechen. Wem es aber nicht gelingt, eine billigere Wohnung zu finden, der muß Senkungen bei den Mietkostenzuschüssen hinnehmen. Die Differenz muß aus den Regelleistungen für die Grundsicherung aufgebracht werden. Das heißt für viele, daß sie dann ihren Lebensunterhalt von 200 bis 250 Euro im Monat bestreiten müssen.
Wie kommt es, daß die Mietobergrenzen so gering bemessen sind?
Nach dem Wohngeldgesetz richten sich die Mietobergrenzen nach dem Zeitpunkt, in dem eine Wohnung gebaut oder modernisiert wurde. Doch in Bremen wird die Mietstufe 3, die sich auf Neubauten ab 1992 bezieht, einfach nicht anerkannt. Für einen allein- stehenden Erwerbslosen liegt deshalb die Mietobergrenze für eine zulässige Bruttokaltmiete nicht bei 325, sondern bei 265 Euro im Monat. Für einen solchen Preis gibt es in Bremen kaum Wohnungen. Da die Stadt jeden Euro in die Haushaltssanierung stecken möchte, soll diese Praxis auch nicht geändert werden. Wie aber sollen dann die betroffenen 10000 bis 12000 Menschen eine Wohnung finden, die den Mietobergrenzen entspricht?
Sie haben die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt selbst untersucht. Wie waren Ihre Ergebnisse?
Unsere Untersuchung bezog sich auf alle Mietangebote, die im Monat Januar zur Verfügung standen. Insgesamt waren das 950 Wohnungen. Doch von diesen entsprachen nur etwa 100 den zulässigen Mietobergrenzen. Und zu 70 Prozent lagen sie in den Stadtteilen, in denen es schon jetzt eine Arbeitslosenquote von etwa 20 Prozent gibt. Würde man die Vorgaben der ARGE also rigide anwenden, dann müßten noch mehr Erwerbslose in solche Armutsquartiere ziehen. Die Bildung solcher Ghettos vor allem am Standrand würde noch zunehmen.
Sind nur Alleinstehende betroffen?
Die im besonderen Maße. Denn die Neubauten des sozialen Wohnungsbaus wurden früher meist auf Familiengröße zugeschnitten. Inzwischen haben sich die Lebensgewohnheiten vieler Menschen geändert. Deshalb gibt es einen besonderen Mangel für kleinere, bezahlbare Wohnungen. Betroffen sind aber auch die größeren Haushalte, denn auch bei ihnen entsprechen die Mietobergrenzen nicht der tatsächlichen Situation auf dem Wohnungsmarkt.
Was fordern Sie?
Wir fordern eine Besitzstandswahrung für alle, die schon jetzt mit Arbeitslosengeld II leben müssen. Das sind ja größtenteils Menschen, die früher Arbeitslosenhilfe bekommen haben. Deren Ersatz durch das Arbeitslosengeld-II war eine politische und keine sachliche Entscheidung. Sie darf aber nicht dazu führen, daß die Menschen auch noch ihre letzte Lebensgrundlage verlieren. Und wir fordern zudem, daß nun endlich auch in Bremen die Mietstufe 3 anerkannt wird.
Wie reagieren die Abgeordneten auf diese Forderungen, und wie verliefen Ihre Aktionen?
In der großen Koalition aus CDU und SPD wird meist gemauert. Vielfach ist man dort der Meinung, daß nur die Einhaltung der bisherigen Mietobergrenzen, die Wohnungsgesellschaften dazu zwingt, günstigeren Wohnraum anzubieten. Da ist sicherlich was dran. Doch das Perfide dieser Strategie besteht darin, daß die Erwerbslosen in diesem Konflikt mit den Wohnungsanbietern als Kanonenfutter benutzt werden. Sie werden im Mühlstein dieser unterschiedlichen Interessen zerrieben.
Dreimal hintereinander waren wir mit mehr als 100 Leuten bei Sozialausschußsitzungen. Das hat die Sozialsenatorin so sehr genervt, daß sie die Sitzung beim letzten Mal einfach abbrach, nachdem wir uns weigerten zu gehen. Mit unseren Aktionen werden wir aber nicht nachlassen. Am 13. Mai wird eine neue Bürgerschaft gewählt. Gemeinsam mit den Erwerbslosengruppen der IG Metall und von ver.di, aber auch mit den Montagsdemonstranten haben wir beschlossen, die Wahlkampfveranstaltungen von SPD und CDU zu besuchen.
Verwendung: Junge Welt
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24. März 2007
Hamburgs Grüne fordern Auflösung der Arbeitsgemeinschaften zur Betreuung Langzeiterwerbsloser und Abschaffung der Ein-Euro-Jobs
Die Abschaffung jener »Arbeitsgemeinschaften SGB II« (ARGE), die in vielen Kommunen nach der Hartz-IV-Gesetzgebung, zur Betreuung von Langzeitarbeitslosen gegründet wurden, haben die Hamburger Grünen gefordert. Das Konstrukt habe sich nicht bewährt, sagte die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Gudrun Köncke am Donnerstag nachmittag auf einer Pressekonferenz im Rathaus. Zu dessen Bilanz hatte ihre Fraktion bereits zuvor eine große Anfrage an den Senat gerichtet. Die grüne Arbeitsmarktpolitikerin wollte wissen, wie sich die Erwerbslosigkeit in der Hansestadt konkret entwickelt, wie die Jobcenter arbeiten und wie die Vermittlungserfolge im Detail aussehen. Heraus kam dabei, daß die Anzahl der registrierten Langzeitarbeitslosen in Hamburg steigt, obwohl die Gesamterwerbslosenquote in der Hansestadt sinkt.
In Hamburg gibt es 143000 Bezieher von Arbeitslosengeld II. Besonders bedrohlich sei die Entwicklung in einzelnen »Problemstadtteilen«, wie etwa Billstedt und Wilhelmsburg, betonte Köncke. Binnen einer Frist von nur einem Jahr wären dort bis zu 20 Prozent mehr Langzeitarbeitslose registriert worden.
Offensichtlich werden diese Menschen abgeschrieben. Während sich bei der ARGE im Durchschnitt der Stadt ein Fallmanager um 348 Erwerbslose kümmert. liegt dieses Verhältnis in den Problemstadtteilen bei eins zu 732. Die 1750 Mitarbeiter der Hamburger ARGE haben mehrheitlich ohnehin anderes zu tun, als sich um ihre »Kunden« zu kümmern: Knapp 29 Prozent von ihnen sind als Fallmanager eingesetzt, währen 54 Prozent allein in der Leistungsverwaltung tätig sind. Dieses Verhältnis spiegelt sich auch in der Förderungspraxis wider. Nur acht Prozent der in Hamburg zur Verfügung stehenden Fördermittel werden für Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung aufgewandt, während 60 Prozent in die sogenannten Ein-Euro-Jobs fließen, kritisierte die grüne Arbeitsmarktexpertin, die als Konsequenz aus diesen Zahlen die Abschaffung der Ein-Euro-Jobs verlangt.
Verwendung: Junge Welt
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23. März 2007
Der nachfolgende Beitrag ist ein Gastbeitrag von Wolfgang Joithe
Glos lässt Katze aus dem Sack: Zwangsarbeit für Hartz-IV-Geschädigte
Laut einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 23.03.07 will der Wirtschaftsminister 1,4 Millionen Stellen für Geringverdiener schaffen. Das erarbeitete Konzept sieht eine Arbeitspflicht für alle Hilfsbedürftigen vor. Die Ökonomen des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) glauben, dass die Pläne von Glos ein wahres Job-Wunder auslösen können.
Ob die entwickelte Reform aus der Feder des Herrn Glos und seiner Mitarbeiter stammt, sei einmal dahingestellt. Wie wir wissen, erbeitet die Wirtschaftslobby den Regierenden gern zu was bei der fehlenden Fachkompetenz nur allzu bereit angenommen wird.
Dass hier eine Journalistin der Süddeutschen Zeitung (Nina Bovensiepen) dieses Konzept ohne jede kritische Bemerkung in einen Artikel gießt, zeigt den Zustand der journalistischen Arbeit in Deutschland und den Zustand unserer BILDungsgesellschaft.
Einen Blick in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hätte Frau Bovensiepen doch wohl werfen können:
Artikel 12 GG:
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.
Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen Dienstpflicht.
Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Zumindest hier hätte man einige kritische Anmerkungen erwarten dürfen. Das ein Bundesminister das Grundgesetz auf Grund setzen will, wäre doch die eine oder andere Zeile wert gewesen oder ist unsere Verfassung das Papier nicht mehr wert, auf dem es gedruckt ist?
Noch besser kommt es mit dem unabhängigen IZA-Institut. Haben die kein Archiv mehr bei der Süddeutschen Zeitung?
Im Februar 2006 schlug der IZA-Direktor für Arbeitsmarktpolitik, Dr. Hilmar Schneider, vor, die Arbeitskraft von Hartz-IV-Geschädigten zu versteigern, der Sklavenmarkt ließ grüßen.
Direktor des Instituts ist Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann, der der Initiative für (A)Soziale Marktwirtschaft nahe steht und auch Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist . Zimmermann ist vehementer Verfechter der Arbeitsmarkreformen und trimmt das ehemals gut beleumdete DIW auf den neoliberalen Kurs.
Last but not least: Präsident des IZA ist Klaus Zumwinkel, der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Post World Net, die sich das IZA hält.
Bei der IZA handelt es sich also nicht um ein unabhängiges Institut, sondern um ein Instrument jener, die den Raubtierkapitalismus weiter (bis zum Endsieg?) vorantreiben wollen, der verharmlosend auch Neoliberalismus (besser: Neofeudalismus) genannt wird.
Eine Nachfrage sei gestattet: Wieso nur 1,4 Millionen Stellen? Nach den offiziellen Zahlen müssten doch mindestens 4 Millionen Zwangsarbeit-Jobs geschaffen werden! Da man sich bei diesen Herren, denen das Grundgesetz einfach schnuppe ist, reichlich aus dem Fundus unserer jüngsten, unrühmlichen Geschichte bedient (Reichsarbeitsdienst, der unter den Nazis zum Zwangsdienst wurde), lässt diese Lücke nur einen Schluss zu: die restlichen 2,6 Millionen werden um im Jargon der Schmarotzer, Parasiten, Zwangsarbeit-Hetzer zu bleiben der Endlösung zugeführt. Ganz im Sinne unseres Bundesministers Müntefering: Nur wer arbeitet, soll essen. Und wie sagte der Präsident des HWWI (Hamburger Welt-Wirtschafts-Institut), Prof. Dr. Thomas Straubhaar (Botschafter der Initiative (A)Soziale Marktwirtschaft), kürzlich: Zuckerbrot und Peitsche.
Glos, Clement, Zimmermann, Zumwinkel, Schneider, Straubhaar: nur die Mode hat sich geändert. Man trägt heute dezentes Grau bis Schwarz und ist kräftig dabei, das Grundgesetz auf Grund zu setzen.
Der Autor dieses Beitrages Wolfgang Joithe ist aktiv in der Erwerbslosengruppe PeNG! Näheres siehe: hier
Der besprochene Artikel in der Süddeutschen Zeitung ist unter folgendem Link zu finden: Süddeutsche Zeitung
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21. Februar 2007
In »öffentlicher Verhandlung« wurden in Bremen Erwerbslose und Mitarbeiter von Beschäftigungsträgern befragt. Ein Gespräch mit Uwe Helmke
Uwe Helmke gehört zu den Mitinitiatoren einer »öffentlichen Verhandlung zu den Ein-Euro-Jobs«, die am Freitag in Bremen stattfand
Rund 150 Menschen, darunter auch etliche Erwerbslose, haben am Freitag an Ihrer Verhandlung zum Thema Ein-Euro-Jobs teilgenommen. Wie kam es zu dieser Aktion?
Diese Jobs sind Arbeitsgelegenheiten ohne Arbeitsvertrag und ohne ausreichende soziale Absicherung. Fast 4500 Menschen sind davon allein in Bremen betroffen, wo diese Maßnahmen »Injobs« genannt werden. Doch einen solchen Begriff lehnen wir ab, denn diese Maßnahmen sind für die Betroffenen meist völlig perspektivlos, führen eher dazu, daß die Menschen an Fähigkeiten verlieren. Der vom Gesetzgeber benannte Grundsatz des »Förderns und Forderns« ist nicht eingelöst worden. Nur aus der Not heraus sind nun etliche Erwerbslose gezwungen, sich auf solche, häufig entwürdigenden, Arbeitsgelegenheiten einzulassen. Das wollten wir thematisieren.
Wer war beteiligt, und wie war der Verlauf?
Beteiligt waren Menschen aus unterschiedlichsten Gruppen: Erwerbslose und Betroffene genauso wie Mitarbeiter der Beschäftigungsträger und von der Bremer Arbeit GmbH. Auch Mitarbeiter aus Behörden und vom Kirchlichen Dienst der Arbeitswelt kamen zu Wort. Es war uns wichtig, dieses Thema mit allen zu diskutieren, die in irgendeiner Form an der Organisation der Ein-Euro-Jobs beteiligt sind. Das Instrument einer öffentlichen Verhandlung sicherte zugleich eine sehr sachliche und sehr gründliche Debatte.
Während der Verhandlung kamen also nicht nur Kritiker, sondern auch Befürworter zu Wort. Als letzterer trat zum Beispiel der Geschäftsführer eines Beschäftigungsträgers auf, der schilderte, wie sich Erwerbslose auch freiwillig für solche Jobs bewerben. Die Erwerbslosen wollen etwas Sinnvolles tun, auch wenn es schlecht bezahlt ist. Berichtet wurde außerdem, wie etliche Träger sich bemühen, eigene Qualifizierungs- und Beratungsangebote zu unterbreiten.
Dazu gab es dann eine Kontroverse, in der sich viele auch auf die zunehmende gesellschaftliche Spaltung zwischen Arm und Reich bezogen. Die Ein-Euro-Jobs sind ein Teil davon und nur in diesem Zusammenhang zu verstehen. Deshalb war es uns bei der Abfassung der Klagen auch wichtig, nicht nur die Nutznießer und Organisatoren der Jobs zu kritisieren, sondern vor allem die politischen Entscheidungsträger und die Regierungen, aber auch Wirtschaftsführer und Medien.
Was wurde angeklagt?
Die mit Ein-Euro-Jobs verbundene Perspektiv-, Würde- und Rechtlosigkeit, aber auch die politischen Rahmenbedingungen, die diese möglich gemacht haben. Zu den Problemen gehören auch die unzureichenden Mietobergrenzen, die Erwerbslose dazu zwingen, die eigene Wohnung aufzugeben oder aber Kürzungen bei der Grundsicherung hinzunehmen.
Wer wurde als Zeuge aufgerufen?
Erwerbslose, die von ihrem Schicksal und von ihrer Situation berichteten. Auf seiten der Verteidigung dann die Träger, aber auch Mitarbeiter aus den Behörden. Die Träger sitzen oft zwischen zwei Stühlen: Einerseits lehnen sie die Ein-Euro-Jobs politisch ab andererseits möchten sie den Erwerbslosen helfen.
Gab es ein Urteil?
Wir haben uns entschieden, die Debatte zunächst fortzuführen. Doch gleichzeitig geht es auch darum zu handeln. Aus vier Ein-Euro-Jobs könnten leicht drei durchaus armutsresistente und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gemacht werden. Doch entscheidend dafür ist, daß die Politik wieder anerkennt, daß solche öffentlichen Aufgaben durch vernünftig finanzierte und reguläre Jobs abgedeckt werden.
Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/02-21/042.php
8. Februar 2007
Studie von Bremer Erwerbslosenhilfe belegt: »Angemessene« Unterkunft für Langzeitarbeitslose ist auf dem Markt kaum zu finden
Wenn am heutigen Donnerstag die Sozialdeputation der Bremischen Bürgerschaft tagt, steht die Anhebung der Mietobergrenzen für Empfänger des Arbeitslosengeldes II (ALG II) nicht auf der Tagesordnung. Doch genau das wäre erforderlich, wie eine dieser Tage veröffentlichte Untersuchung des Erwerbslosenselbsthilfeprojekts »Solidarische Hilfe e.V.« deutlich zeigt. Denn demnach sind in der Stadt an der Weser Wohnungen, die den Angemessenheitskriterien der Sozialbehörde entsprechen, kaum noch zu finden. Besonders schwierig ist es für Einzelpersonen, aber auch für Großfamilien. Die Bruttokaltmieten geeigneter Wohnungen liegen laut Studie fast immer über dem von der Sozialbehörde für Erwerbslose anerkannten Höchstsatz. Tausenden droht deshalb nun eine Kürzung ihrer Mietzuschüsse.
Um die realen Möglichkeiten für ALG-II-Bezieher nachzuweisen, hatten Mitarbeiter der Solidarischen Hilfe einen ganzen Monat lang alle 950 Mietangebote erfaßt, die in dieser Zeit durch die Wohnungsgesellschaften veröffentlicht worden waren. Fast immer lag dabei die Bruttokaltmiete über jenem Betrag, der als Mietobergrenze für Erwerbslose gilt. Je größer die Haushalte, desto größer wurde dabei die Differenz. Bei Wohnungen mit vier oder mehr Zimmern liegt sie fast immer über 35 Prozent.
Nicht besser sieht es bei den Ein- und Zweiraumwohnungen aus, wo 72 Prozent aller Angebote mindestens 50 Euro über der Mietobergrenze von 355 Euro lagen. Nicht mal sieben Prozent der Angebote entsprachen hingegen den Vorgaben der Behörde. Und von diesen Wohnungen wiesen den Angaben zufolge viele eine so schlechte Bausubstanz auf, daß hier enorm hohe Heizkosten fällig wurden.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt aber auch eine offizielle Statistik der »Bremer Agentur für Integration und Soziales«. Die Agentur hat demnach bereits 6453 Bremer ALG-II-Empfänger, die mit ihrer Kaltmiete 20 Prozent über der Obergrenze liegen, angeschrieben und zur Senkung ihrer Wohnkosten aufgefordert.
Im Schnitt zahlten diese Mieter nach Angaben der Behörde 388 Euro Miete inklusive Betriebskosten. Zulässig gewesen wären im Durchschnitt allerdings nur 253 Euro. Finden diese Menschen keinen billigeren Wohnraum, müssen sie die Differenz zwischen ihren realen Kosten und dem, was das Amt für »angemessen« hält, künftig selbst finanzieren, d. h. aus dem Regelsatz von 345 Euro.
Für Herbert Thomsen, Sozialberater bei der Solidarischen Hilfe, eine »katastrophale Situation«. Der Ausweg könnne nur sein, im Stadtstaat die Mietobergrenzen endlich der tatsächlichen Lage anzupassen. Wichtig dafür sei der politische Druck, erklärte Thomsen gegenüber junge Welt. Für die Forderung nach einer Anhebung der Mietobergrenzen wollen Betroffene deshalb am heutigen Donnerstag zum Sitz der Sozialdeputation demonstrieren. Die Teilnehmer treffen sich um 14 Uhr am Bahnhofsvorplatz.
Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/02-08/049.php
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10. Januar 2007
Fünf-Sterne-Hotel ließ für Bruttolohn unter zwei Euro die Stunde putzen
In Hamburg hat Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) die Vertreter der Hotel- und Gebäudereinigungsbranche, aber auch die zuständigen Gewerkschaften zu einem Krisengipfel in seine Behörde eingeladen. Hintergrund für die am Dienstag ausgesprochene Einladung ist die offenbar weit verbreitete Praxis, in diesen Branchen nur Hungerlöhne weit unter Tarif zu zahlen. Der Senator reagierte damit auf einen am Tag zuvor erschienenen Bericht im Hamburger Abendblatt, an das sich ein Zimmermädchen aus dem Dorint-Hotel gewandt hatte. Ihr wurde trotz eines gültigen und allgemeinverbindlichen Tarifvertrags, der einen Mindestlohn von 7,87 Euro vorschreibt nur ein Bruttostundenlohn von 2,46 Euro gezahlt. Daß dies aber kein Einzelfall ist, wurde noch am selben Tag deutlich, als sich gleich Hunderte Beschäftigte aus weiteren Hotels und Gebäudereinigungsfirmen meldeten, die unter ähnlichen Bedingungen schuften. Gestern berichtete die Bild-Zeitung nun sogar von einer Putzkraft, die nur einen Bruttostundenlohn von 1,92 Euro bekommt obwohl sie in einem Fünf-Sterne-Hotel arbeitet.
Der Trick, mit dem die »Arbeitgeber« bestehende Tarifverträge unterlaufen, besteht dabei offenbar darin, die Löhne auch bei Vollzeitkräften nur auf der Grundlage der tatsächlich geputzten Zimmer zu berechnen. Die Frau, die im Dorint-Hotel arbeitet, war dabei zum Beispiel für die Reinigung der Luxusdoppelzimmer und der »Präsidentensuite« zuständig, wo eine Übernachtung bis zu 1275 Euro kostet. Um diese Zimmer zu reinigen, benötigte sie erheblich mehr Arbeitszeit als in anderen Bereichen. Für die Lohnberechnung wurde ihr aber trotzdem nur eine Pauschale von 3,50 Euro pro gereinigtem Zimmer gutgeschrieben, während sie in der dann verbliebenen Arbeitszeit ohne weitere Aufträge und damit auch ohne weiteren Lohn blieb. Uldall will nun überprüfen, ob und inwieweit eine solche Praxis des Lohndumpings auch in anderen Hamburger Hotels oder Reinigungsfirmen der Hansestadt verbreitet ist.
Doch damit hat sich der Senator viel vorgenommen. Denn nach den Zahlen aus seiner eigenen Behörde sind in Hamburgs Hotel- und Gebäudereinigungsgewerbe rund 30000 Menschen beschäftigt, von denen nicht mal 10000 über einen Vollzeitarbeitsvertrag verfügen. Viele andere müssen in prekären Jobs arbeiten.
DGB-Lokalchef Erhard Pumm nahm die Vorfälle indes zum Anlaß, erneut einen gesetzlichen Mindestlohn einzufordern. Er verwies darauf, daß in der Reinigungs- und Hotelbranche auch viele Zuwanderer arbeiten, die meist nicht in der Gewerkschaft organisiert sind und deshalb ihre Rechte gar nicht kennen. Wer sich dann aber trotzdem wehre, werde entlassen.
Eher abwehrend bis nervös reagierten die Branchenvertreter und die Bundesagentur für Arbeit. Während Michael Reimer, selbst Chef einer der größten Gebäudereinigungsfirmen in Hamburg, die Praxis solcher Zimmerpauschalen verteidigte, damit werde den Putzkräften ein »Anreiz« gegeben, sieht sich die Agentur für Arbeit gründlich blamiert. Sie hatte einigen dieser Firmen auch noch Lohnzuschüsse nach dem Hamburger Kombilohnmodell überwiesen. Ohne dabei zu prüfen, ob dort der Tariflohn auch tatsächlich ausgezahlt wird.
Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/01-10/042.php
05. Januar 2007
Chef der Hamburger Arbeitsagentur fordert Absenkung des Arbeitslosengeldes II auf 200 Euro, dazu Arbeitspflicht in staatlichem Niedriglohnsektor
Für eine Senkung des Hartz-IV-Regelsatzes von 345 auf etwa 200 Euro hat sich in Hamburg der Chef der örtlichen Arbeitsagentur, Rolf Steil, ausgesprochen. Zwar könne man mit 200 Euro nicht überleben. Aber, so Steil in einem am Donnerstag erschienenen Interview mit dem Hamburger Abendblatt: »Das soll ja niemand.« Die Differenz zum Existenzminimum könne ja durch weitere »Zuverdienstmöglichkeiten« in einem auszuweitenden staatlichen Niedriglohnsektor und bei Ein-Euro-Jobs ausgeglichen werden. »Ich bin ein Anhänger des Prinzips workfare«, sagte der Agenturchef im Abendblatt: Wer Sozialfürsorge erhalte, solle dafür auch arbeiten müssen.
Mit dem Interview reagierte Steil auf den inzwischen gestiegenen Anteil sogenannter Langzeitarbeitloser unter den Erwerbslosen. Nach der am Mittwoch veröffentlichten Statistik machen diese in Hamburg mittlerweile rund 44 Prozent aller Erwerbslosen aus. Als »langzeitarbeitslos« gilt für die Statistik, wer seit zwölf Monaten keinen Job hat.
Um diese Klientel zu vermitteln, müsse der Abstand des Arbeitslosengeldes II zu den Niedriglöhnen größer werden, argumentiert Steil. Sonst würden die Erwerbslosen lieber »zu Hause sitzen«, anstatt zu arbeiten, sagte er.
Als völlig abwegig, ja skandalös, bezeichneten hingegen Gewerkschaftsvertreter die Vorschläge von Steil. Dieser müsse aufpassen, daß er sich mit solchen »extremistischen Positionen« nicht selbst ins Abseits stelle, warnte ver.di-Landeschef Wolfgang Rose. Der Ausbau der Ein-Euro-Jobs sei ein »Mißbrauch« vorhandener Mittel aus der Arbeitslosenversicherung, sagte Rose. Als »zynisch« bezeichnete auch DGB-Lokalchef Erhard Pumm die Vorschläge von Steil. Die Ausweitung des Niedriglohnbereichs führe nur zur Ausweitung des Armutsrisikos nicht nur für die Betroffenen, sondern für alle Lohnabhängigen, warnte Pumm. Anstatt »Phrasen zu dreschen«, sollte Steil lieber mehr Geld für wirksame Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, forderten beide Gewerkschaftsführer.
Doch all das sei nicht ausreichend, um sich gegen solche Forderungen wirksam zur Wehr zu setzen, erklärte Wolfgang Joithe von der Selbsthilfegruppe »Aktive Erwerbslose und Geringverdiener« (PeNG). Er verlangte eine stärkere Unterstützung der Gewerkschaften für die Selbstorganisation der Erwerbslosen. Auch die Forderung nach einem »bedingungslosen Grundeinkommen« müsse dabei neu diskutiert werden.
Der Hamburger Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion, Norman Paech, erklärte am Donnerstag, Steils Plädoyer für »Workfare« laufe »schlicht darauf hinaus, daß Armut trotz Arbeit Normalität sein soll. Wer Workfare sagt, meint Working poor.«
Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/01-05/042.php
Bremische Arbeitnehmerkammer verlangt Weiterbildung statt Ein-Euro-Jobs
In Bremen hat die Arbeitnehmerkammer einen grundlegenden Wechsel in der Arbeitsmarktpolitik des Zweistädtestaats eingefordert. Kritisiert wurden vor allem die Ein-Euro-Jobs, die bei der Vermittlung bisher erwerbsloser Personen bei weitem nicht das gebracht hätten, was die Hartz-IV-Reformer ursprünglich versprochen hatten. Die dafür vorgehsehenen Mittel sollten deshalb nun besser für andere arbeitsmarktpolitische Instrumente eingesetzt werden, forderte Arbeitnehmerkammer-Geschäftsführer Hans Endl.
Konkret gehe es darum, sagte er, mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten nicht nur die Arbeitswilligkeit von Arbeitslosen zu überprüfen, sondern ihnen sozialpolitisch vertretbare und nützliche Hilfen anzubieten. Wo eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt nicht sofort stattfinden könne, müßten sozialversicherungspflichtige, öffentlich geförderte Beschäftigungsformen wieder neu geschaffen werden. Auch die Weiterbildung müsse verstärkt gefördert werden, da auf diesem Wege eine Integrationsquote in den allgemeinen Arbeitsmarkt von über 40 Prozent erreicht werden könne.
Vermittlungserfolge im Wege der Ein-Euro-Jobs hat es hingegen kaum gegeben, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ( IAB ) soeben ergab. Die Ein-Euro-Jobs seien für Erwerbslose eine Sackgasse, kritisierte die Kammer. Sie bemängelte, daß die Träger solcher Maßnahmen bis zu 500 Euro mit einem einzelnen Jobber pro Monat verdienen, während diese selbst nicht einmal ein Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben.
In Bremen waren im Jahr 2005 von 3640 öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen 3243 Ein-Euro-Jobs, während sich die ursprünglich dominanten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) auf 382 Stellen reduzierten. Im laufenden Jahr 2006 soll sich die Anzahl der Ein-Euro-Jobs sogar auf über 5000 erhöht haben. Ein Nachbessern bei der bremischen Arbeitsmarktpolitik reiche deshalb nicht aus, sagte Endl, der ein »radikales Umsteuern« durch den Senat einforderte. »Wir brauchen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse statt Ein-Euro-Jobs, da nur dies den Betroffenen eine Tätigkeit und Anerkennung in einem würdigen Arbeitsrechtsverhältnis vermittelt«, heißt es in einem Papier der Kammer.
Bundesweit hat sich die Anzahl der Ein-Euro-Jobs nach der Studie des IAB inzwischen auf über 300000 erhöht, während gleichzeitig die Menge der ABM-Stellen von über 200000 im Jahr 2000 auf nunmehr unter 50000 gesunken ist. In einigen Bundesländern, wie etwa in Hamburg, gibt es überhaupt keine ABM-Stellen mehr.
info: www.arbeitnehmerkammer.de
http://www.jungewelt.de/2006/12-18/043.php
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Bildbericht Junge Welt: Mehrere hundert arme und erwerbslose Menschen haben am Samstag am 5. Hamburger Bettlermarsch teilgenommen.
Dieser jährliche Aufmarsch, der vom Stadtteil St. Pauli bis quer durch die Innenstadt führt, war von der Obdachloseneinrichtung CAFÉE mit Herz initiiert worden, als 2001 der damalige Innensenator Ronald Barnabas Schill ankündigte, er wolle Bettler und andere Arme aus der Innenstadt vertreiben.
http://www.jungewelt.de/2006/11-13/049.php
Einen ausführlichen Beitrag vom Bettlermarsch verfasste die Kollegin Birgit Gärtner für das Neue Deutschland. Siehe dazu: hier.
Hamburger Sozialgericht entschied, daß Widerspruch gegen ALG-II-Kürzung aufschiebende Wirkung haben kann
Das Hamburger Sozialgericht hat Willkürentscheidungen von Jobcentern erst einmal einen Riegel vorgeschoben. Die 52. Kammer entschied vergangene Woche, daß der per Eilantrag eingelegte Widerspruch gegen Kürzungen beim Arbeitslosengeld II (ALG II) aufschiebende Wirkung hat. Dem Kläger wurde zusätzlich Prozeßkostenhilfe bewilligt. (AZ S 56 AS 1765/06 ER)
Seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze sind Erwerbslose zum Abschluß von sogenannten Eingliederungsvereinbarungen mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) verpflichtet. Darin werden sie entweder zu Ein-Euro-Jobs oder zur Teilnahme an anderen Maßnahmen zwangsverpflichtet, oder es werden »Eigenbemühungen« und Verpflichtungen zur Jobsuche festgelegt. Kommt eine solche »Vereinbarung« nicht zustande, kann die Behörde einseitig Bedingungen diktieren. Erwerbslose sind dabei häufig der Willkür ihrer Fallmanager ausgesetzt, die saftige Kürzungen des ALG II verhängen können, wenn die »Vereinbarung« nicht eingehalten wird oder werden kann. Widerspruch dagegen wurde nicht anerkannt. Diese Praxis ist laut Gerichtsbeschluß aber rechtswidrig, wie Oswald Wilken, Vorsitzender des Ortsverbandes Kirchdorf/Wilhelmsburg des Sozialverbandes Deutschland, junge Welt am Samstag erläuterte.
Das Urteil betrifft einen Klienten Wilkens, der Opfer eines solchen Verwaltungsaktes wurde, weil er die Zustimmung zu einer ihm vorgelegten »Eingliederungsvereinbarung« verweigert hatte. Der Mann erhob dagegen Widerspruch, doch die BA bestand auf ihren Zwangsmaßnahmen. Falls er nicht nachgebe, hieß es, werde das ALG II um 30 Prozent gekürzt.
Das Gericht berief sich auf einschlägige Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Demnach entfalle zwar die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs, wenn es um Leistungskürzungen gehe. Das gelte aber nicht bei »Eingliederungsvereinbarungen«, bei denen der Widerspruch eines Betroffenen bis zur Klärung vor Gericht deren Inkrafttreten verhindere. Leistungskürzungen, die sich auf angebliche oder tatsächliche Pflichtverletzungen beziehen, könnten in einem solchen Fall nicht umgesetzt werden.
Quelle: Rundbrief der BAG-SHI Nr. 3 2006, Seite 28,
vergleiche www.bag-shi.de
Hamburger Sozialgericht entschied, daß Widerspruch gegen ALG-II-Kürzung aufschiebende Wirkung haben kann
Das Hamburger Sozialgericht hat Willkürentscheidungen von Jobcentern erst einmal einen Riegel vorgeschoben. Die 52. Kammer entschied vergangene Woche, daß der per Eilantrag eingelegte Widerspruch gegen Kürzungen beim Arbeitslosengeld II (ALG II) aufschiebende Wirkung hat. Dem Kläger wurde zusätzlich Prozeßkostenhilfe bewilligt. (AZ S 56 AS 1765/06 ER)
Seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze sind Erwerbslose zum Abschluß von sogenannten Eingliederungsvereinbarungen mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) verpflichtet. Darin werden sie entweder zu Ein-Euro-Jobs oder zur Teilnahme an anderen Maßnahmen zwangsverpflichtet, oder es werden »Eigenbemühungen« und Verpflichtungen zur Jobsuche festgelegt. Kommt eine solche »Vereinbarung« nicht zustande, kann die Behörde einseitig Bedingungen diktieren. Erwerbslose sind dabei häufig der Willkür ihrer Fallmanager ausgesetzt, die saftige Kürzungen des ALG II verhängen können, wenn die »Vereinbarung« nicht eingehalten wird oder werden kann. Widerspruch dagegen wurde nicht anerkannt. Diese Praxis ist laut Gerichtsbeschluß aber rechtswidrig, wie Oswald Wilken, Vorsitzender des Ortsverbandes Kirchdorf/Wilhelmsburg des Sozialverbandes Deutschland, junge Welt am Samstag erläuterte.
Das Urteil betrifft einen Klienten Wilkens, der Opfer eines solchen Verwaltungsaktes wurde, weil er die Zustimmung zu einer ihm vorgelegten »Eingliederungsvereinbarung« verweigert hatte. Der Mann erhob dagegen Widerspruch, doch die BA bestand auf ihren Zwangsmaßnahmen. Falls er nicht nachgebe, hieß es, werde das ALG II um 30 Prozent gekürzt.
Das Gericht berief sich auf einschlägige Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Demnach entfalle zwar die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs, wenn es um Leistungskürzungen gehe. Das gelte aber nicht bei »Eingliederungsvereinbarungen«, bei denen der Widerspruch eines Betroffenen bis zur Klärung vor Gericht deren Inkrafttreten verhindere. Leistungskürzungen, die sich auf angebliche oder tatsächliche Pflichtverletzungen beziehen, könnten in einem solchen Fall nicht umgesetzt werden.
http://www.jungewelt.de/2006/09-18/049.php
http://www.initiativenzeitung.org/nachricht/meldung/richter-stoppen-jobcenter-willkuer/