05. September 2008

Heftige Auseinandersetzung in Hamburger Bürgerschaft. CDU diffamiert Abgeordnete der Linken

In der ersten Sitzung der Hamburgischen Bürgerschaft nach der Sommerpause hat die Linkspartei-Abgeordnete Christiane Schneider am Mittwoch abend die Polizeiübergriffe auf Teilnehmer des dort kürzlich veranstalteten Klima- und Antirassismuscamps kritisiert. »Was zählen in dieser Stadt eigentlich die Bürgerrechte?« fragte die Vizechefin der Linksfraktion in der Aktuellen Stunde. Der CDU/Grünen-Senat habe zur »Wahrung des Koalitionsfriedens« zwar während der Camps auf einen offenen »Law and Order«-Kurs verzichtet. Später hätten sich aber die CDU-Hardliner, wie etwa Innensenator Christoph Ahlhaus, durchgesetzt. Auf dem Höhepunkt der Camps habe Ahlhaus dann mit seiner Parole »den Chaoten kein Pardon« grünes Licht für Polizeiübergriffe gegeben, die Grundrechte „außer Kraft“ gesetzt hätten. Vor allem die Versammlungsfreiheit wäre dabei »auf der Strecke geblieben«, so Schneider. Wie berichtet, hatte die Abgeordnete bereits in der Woche zuvor auf einer Pressekonferenz ein Video vorgestellt, auf dem deutlich zu sehen ist, wie Polizeibeamte Teilnehmer von Aktionen der Camps grundlos zu Boden warfen und mißhandelten. In der Bürgerschaft sprach die Abgeordnete deshalb von einer »arroganten Demonstration polizeilicher Macht« auf Kosten der Grundrechte. Als innenpolitische Sprecherin ihrer Frak­tion forderte Schneider, die Vorkommnisse gründlich aufzuarbeiten.

Der Auftritt sei ein »dreister Angriff auf die Integrität unserer Polizei«, reagierte der innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, Kai Voet van Vormizeele. Ähnlich erregt zeigte sich SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel, der die Frage aufwarf, welche Rolle die Linksfrak­tion in diesem »Grenzbereich zwischen illegalen und legalen Protest« spiele. Schneider habe mit »ihren Solidaritätsadressen für Chaoten« der Demokratie einen Bärendienst erwiesen und selbst den Boden für »Krawall und Chaos« geschaffen. Dressel reagierte damit auch auf Vorwürfe von Schneider. Da der SPD-Mann ein Verbot solcher Camps gefordert hatte, sei er mitverantwortlich für die »Kriminalisierung« des berechtigten Protests etwa gegen Abschiebungen. Sicherlich, so Schneider: Bei einzelnen Aktionen, sei die Grenze zur Gewalt überschritten worden, was sie selbst bedaure. Doch wer dies dann, wie etwa Dressel oder Ahlhaus, zum Vorwand nehme, um gleich Hunderte von Demonstranten »in eine Art von gesinnungsmäßiger Sippenhaftung« zu nehmen, der verlasse auch selbst »den Boden des Rechts«.

Ganz aus dem Häuschen war daraufhin CDU-Hardliner Karl-Heinz Warnholz: »Wir kennen Ihre kommunistische Vergangenheit«, schrie er Schneider an. »Halten Sie künftig zu diesem Thema den Mund«, so der Vorsitzende des Innenausschusses, der den Verdacht äußerte, Schneider habe ihr Video gefälscht. Schließlich forderte er die Abgeordnete auf, ihr Mandat niederzulegen. »Sie sind eine Schande für das ganze Haus«, rief er aus.

Und die in der Hansestadt mitregierenden Grünen? Die Polizei habe »insgesamt ihre Einsätze gut gelenkt«, doch offenbar gebe es »Einzelfälle«, wo dies nicht so war, müßten diese geprüft werden, versuchte die Abgeordnete Antje Möller einen komplizierten Spagat. Dass die Versammlungsfreiheit missachtet worden wäre, wies ihr Parteikollege und Justizsenator, Till Steffen, indes klar zurück. Er suchte den Fokus der Kritik nun auf SPD-Mann Dressel zu lenken. Dieser habe seiner Forderung des Verbots den Bogen überspannt. »Denken Sie doch nur an ihre eigene Geschichte und daran, dass die Vorstellung, man könne staatskritischen Protest einfach ersticken, schon unter Bismarck scheiterte«, rief er Dressel zu. Immerhin: Steffen versprach Schneider nun alle Vorwürfe gegen einzelne Beamte auch durch seine Behörde zu prüfen. Die CDU-Fraktion quittierte dies mit eisigem Schweigen.

Anmerkung: In der Veröffentlichung für die Tageszeitung junge Welt mussste dieser Artikel aus Platzgründen leider gekürzt werden. Die entsprechenden, dort nicht veröffentlichten Passagen, sind hier kursiv gesetzt. Leider ging dadurch verloren, daß Schneider in der Sache durchaus einen kleinen Erfolg erzielte: der Justizsenator sicherte ihr immerhin zu, die Vorwürfe zu prüfen.

Verwendung: Zum Teil in Junge Welt vom 5. September 2008
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06. Mai 2008

Anlaufstelle für Menschen ohne Papiere. Gewerkschaft kündigt Verfahren vor Arbeitsgerichten an

In Hamburg hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di am Montag die bundesweit erste gewerkschaftliche Anlauf- und Beratungsstelle für Illegalisierte, also Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, eingerichtet. Allein in der Hansestadt gäbe es rund 100000 Illegalisierte, bundesweit rund eine Million, begründete dies ver.di Fachbereichsleiter Peter Bremme. Viele von ihnen würden in Privathaushalten als Hilfs- und Reinigungskräfte arbeiten. Andere in der Pflege oder Gastronomie, auf dem Bau, im Hafen oder als Sexarbeiterinnen. Die Gewerkschaft sei auch für die Interessenvertretung dieser Menschen zuständig, so Bremme.

Die Sozialwissenschaftlerin Emilija Mitrovic verwies am Montag vor der Presse auf eine Studie, wonach in 7,5 Prozent aller Privathaushalte regelmäßig Putz- oder Haushaltshilfen beschäftigt sind. Dies entspräche rund 2,9 Millionen Beschäftigungsverhältnissen. »Doch nur 40000 dieser Jobs tauchen in der Sozialversicherungsstatistik auf«, so Mitrovic. Es seien eben vielfach Illegalisierte, die einen oder auch mehrerer solcher Jobs ausüben. Das träfe auch auf die besonders schmutzigen und gefährlichen Container-Reinigungen im Hafen zu. Angeworben über bestimmte Kneipen, angeheuert durch Subunternehmer, gäbe es dort Stundenlöhne von weniger als drei Euro. Und selbst um diese würden die Betroffenen vielfach noch geprellt.

Die Idee zur Schaffung der Beratungsstelle mit dem Namen MigrAr sei im Arbeitskreis »undokumentierte Arbeit« entstanden, berichtet Bremme. Daraus ergebe sich nun ein enges Beziehungsfeld zu weiteren Einrichtungen der Migrationsarbeit. Ziel der gemeinsamen Arbeit sei es, Menschen ohne Papiere einen Zugang zu ihren Rechten zu ermöglichen. Jeden Dienstag in der Zeit zwischen 10 und 14 Uhr erhalten Betroffene nun im ver.di-Center kostenlos Auskunft zu Fragen des Arbeits- und Sozialrechts. In Fällen von Lohnprellerei, verweigertem Gesundheitsschutz oder der Einschränkung von Freiheitsrechten, würden Verfahren vor dem Arbeitsgericht angestrengt. Ähnliches gelte zudem, wenn Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetzt nicht gewährt wurde.

Erst kürzlich habe ein Gerichtssprecher darauf hingewiesen, daß solche Gerichtsverfahren möglich sind, ohne daß der Richter gleich die Ausländer- und Abschiebebehörden informiere, erklärte ver.di-Mann Bremme.

Die Beratungsstelle werde mit »äußerster Sensibilität« arbeiten, betont die Sozialarbeiterin Monica Orjeda. Bestünde bei Betroffenen die Angst das verdi-Center zu besuchen, etwa weil befürchtet wird, die Ausländerbehörde bekäme das mit, würden Mitarbeiter die Betroffenen auch zu hause aufsuchen. Für die Sozialarbeiterin ergeben sich zwei Ziele für die neue Einrichtung: Erstens den Illegalisierten zu verdeutlichen, daß sie nicht allein und auch nicht rechtlos sind; zweitens, genau dies auch den Arbeitgebern klar zu machen. Der Schutz vor einer möglichen Abschiebung habe dabei höchste Priorität. Um die Beratungsstelle noch besser den Bedürfnissen der Betroffenen anzupassen, werde zudem eine auf Interviews basierende Studie vorbereitet.

Bremme ging abschließend noch einen Schritt weiter: Es sei rechtlich kein Problem sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse auch unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus zu schaffen. Dem neuen schwarz-grünen Senat schlug Bremme deshalb vor eine Legalisierungskampagne für das »Tor zur Welt« einzuleiten. So könnte aus den vielen »Prüfaufträgen« des Koalitionsvertrags doch noch Realpolitik werden, sagt Bremme.

Kontakt zur Beratungsstelle: 040/2584138

[Anmerkung: in der Veröffentlichung für die Tageszeitung junge Welt mussten bestimmte Passagen, sie sind oben zur Verdeutlichung kursiv gesetzt, aus Platzgründen leider weggelassen werden.]

Verwendung zum Teil in: Junge Welt vom 6. Mai 2008
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19. Januar 2008

Bild vom 17.01.08Hamburger Wahlkampf: CDU- und SPD-Politiker übertreffen sich bei Hetze gegen angeblich verwöhnte Jungkriminelle. Die Linke: Migranten härter bestraft als Deutsche

Noch am vergangenen Wochenende hatte Innensenator Udo Nagel (parteilos) getönt, das Thema Jugendgewalt eigne sich nicht für den Hamburger Wahlkampf. Doch wenige Tage später wird die Leier von Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) über kriminelle Jugendliche – natürlich insbesondere diejenigen mit »Migrationshintergrund« – auch an der Elbe Mode. Die hanseatische Besonderheit dabei: Hier hält die SPD nicht dagegen, sondern ist mit den anderen Parteien in einen Wettstreit darüber getreten, wer der härteste der Harten ist. Ist es Nagel? Er unterstützt jetzt Kochs Plan, straffällig gewordene junge Migranten schon bei einer Haftstrafe von einem Jahr abzuschieben. Sie sollten am besten gleich einen Teil ihrer Haft im jeweiligen »Heimatland« verbringen, ließ er am Mittwoch verlauten. Oder ist es Thomas Böwer, jugendpolitischer Sprecher der SPD? Er deckte am Donnerstag via Bild-Zeitung auf, daß einige »problematische Kunden des Jugendamts« in »Luxusinternaten« außerhalb Hamburgs untergebracht sind.

Bild nahm Böwers Rechercheergebnisse dankbar auf: Nachdem sie tagelang – angebliche – Pilotprojekte gegen »Kuschelpädagogik« mit Schlagzeilen wie »Hessen schickt Schläger (16) nach Sibirien« beworben hatte, konnte sie nun mit Böwers Hilfe neuen Zündstoff für das Stammtischmilieu liefern. Der SPD-Mann befindet sich damit in bester Gesellschaft: Sein Genosse, der heutige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, hat sich in seiner Zeit als Hamburger Innensenator ebenfalls als knallharter Law-and-Order-Politiker hervorgetan.

Böwer bedient sich zudem ähnlich fragwürdiger Methoden wie der von ihm heftig kritisierte Pannen- und Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU). Dessen Behörde hatte jahrelang mit falschen Statistiken den Eindruck erweckt, daß in Hamburg nach der Regierungsübernahme durch die CDU 2001 jugendliche Straftäter besonders hart bestraft werden. 2006 wurden demnach 314 Jugendstrafen ohne Bewährung verhängt und nur 78 mit Bewährung. Tatsächlich verurteilten Hamburgs Jugendrichter aber nur 106 Jugendliche zu einer Strafe ohne, hingegen 230 Jugendliche zu einer Strafe mit Bewährung. Daraufhin behauptete Lüdemann zunächst, die Staatsanwälte hätten die Daten falsch eingegeben, und bestritt, davon gewußt zu haben. Am Mittwoch mußte er jedoch zugeben, seit Monaten informiert gewesen zu sein. Nicht nur über die Statistikfehler im Jugend-, sondern auch über weitere im Erwachsenenstrafrecht.

Die SPD hat deshalb im Vorfeld einer für Freitag abend anberaumten Sondersitzung des Rechtsausschusses in der Hamburgischen Bürgerschaft »Senator Lügemanns« Rücktritt gefordert. Dabei legte man ihm auch noch die Flucht eines Häftlings aus dem Untersuchungsgefängnis zu Jahresbeginn zur Last: Er sei eher ein Strafvereitler, denn ein Strafverfolger, heißt es nun von der SPD und den Grünen.

Christiane SchneiderGegen den auch in der Hansestadt aufkommenden Law-and-order-Wahlkampf macht sich nur Die Linke stark. Christiane Schneider, Landessprecherin und Kandidatin ihrer Partei für die Bürgerschaft, erklärte, was Bild mit Unterstützung von Böwer verzapft habe, sei eine widerliche »Neid- und Mißgunstkampagne«. Ein möglichst langes Wegsperren jugendlicher Täter, wie es die CDU fordert, löse keine Probleme, sondern schaffe nur neue, sagte sie am Freitag gegenüber jW. »Außerdem ist es längst verbreitete Praxis, Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien besonders hart zu bestrafen und so ein weiteres Mal zu benachteiligen«, fügte sie hinzu. Hier will Die Linke eine Wende erkämpfen. Für dieses Ziel sucht die Partei Partner und hat deshalb für eine am Dienstag stattfindende Veranstaltung zum Thema auch den Vorsitzenden der Regionalgruppe Nord der Vereinigung der Jugendrichter, den Jugendrichter Achim Katz, den Direktor des Instituts für Kriminologische Sozialforschung an der Uni Hamburg, Sebastian Scheerer, und den Rapper Deniz Türksönmez (genannt Bacapon) als Referenten eingeladen. Bild hat Bacapon erst kürzlich als »Boß« einer der größten Jugendgangs in Hamburg diffamiert.

Diskussion »Gefährliche Jugend? – Jugendkriminalität und Straflust«, am 22. Januar, um 19 Uhr in der Patriotischen Gesellschaft, Trostbrücke 4, Hamburg

Verwendung: Junge Welt vom 19. Januar 2008
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10. Januar 2008

Betrieb Hamburger Justizbehörde jahrelang »Täuschung der Öffentlichkeit«?

In Hamburg hat die Bürgerschaftsfraktion der Grünen Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) am Dienstag abend die »bewußte Täuschung der Öffentlichkeit« vorgeworfen. Lüdemann habe jahrelang behauptet, daß in der Hansestadt seit 2002 immer mehr jugendliche Straftäter zu Haftstrafen verurteilt worden seien, obwohl er wußte, daß diese Zahlen gefälscht sind, erklärte der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, Till Steffen, nach einer Sitzung des Innenausschusses in der Bürgerschaft. Bereits vor der Sitzung hatte das Hamburger Abendblatt Anfang der Woche auf den Widerspruch hingewiesen, daß zwar nach Zahlen der Justizbehörde rund 70 Prozent aller seit 2002 verurteilten Jugendlichen, Haftstrafen bekommen hätten, doch gleichzeitig die dafür zuständige Jugendhaftanstalt erhebliche Leerstände aufweise. Im Ausschuß mußte der Senator nun einräumen, daß er selbst seit September 2007 von den falschen Zahlen wußte. Doch in den Jahren zuvor sei der Fehler nicht bemerkt worden, weil viele Staatsanwälte ein 2002 neu eingeführtes Computersystem falsch bedient hätten.

Eine Behauptung, die Steffen anzweifelt. Er verwies auf eine Vielzahl von Anfragen der Oppositionsfraktionen aus den Jahren 2004 und 2005 zu dem Thema. Hintergrund: 2001, also im letzten Jahr eines SPD-Grünen-Senats, wurden 60 Prozent aller jugendlichen Straftäter nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. Zudem, so sagt es Steffen, sei der Hamburger Senat auf Grund der verwirrenden Zahlen auch schon im Mai 2007 von dem Kriminologen Bernhard Villmow angeschrieben und auf den Widerspruch zu den Belegungen in den Haftanstalten hingewiesen worden. Auch eine erst im November 2007 durch die Grünen-Fraktion erneut eingereichte Anfrage zu dem Thema, sei ebenfalls falsch beantwortet worden. Die Behörde habe sich auch zu diesem Zeitpunkt noch geweigert, ihr vorhandenes Wissen Preis zu gegeben.

Lüdemann sei verantwortlich für diese Täuschung der Öffentlichkeit, sagt jetzt auch der SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel. Ihm dränge sich der Verdacht auf, dass die Justizbehörde die falschen Zahlen nur genutzt habe, »damit sich der Senator als Hardliner präsentieren kann«. So wie Steffen fordert nun auch Dressel eine »lückenlose Aufklärung« der Affäre und die offenbar auch schon die Amtszeit des ehemaligen CDU-Innensenator und innenpolitischen Hardliners Roger Kusch betrifft. Am Mittwoch erklärte Steffen schließlich, dass »die CDU mit falschen Zahlen Politik gemacht« hätte. Lüdemann habe dabei versucht, »die für sie peinliche Korrektur dieser Zahlen zu verzögern und über den Wahlzeitpunkt zu retten«. Steffen fordert nun den Rücktritt des Senators.

Verwendung: Zum Teil in Junge Welt vom 10. Januar 2008
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05. Januar 2008

Feuer und Flamme der RepressionBundesgerichtshof verweist Bundesanwaltschaft in ihre Schranken. Ein Gespräch mit Carsten Gericke

Carsten Gericke ist Rechtsanwalt in Hamburg und Mitglied des Bundesvorstandes des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV)

Am Freitag hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Razzien im Vorfeld des G-8-Gipfels in Heiligendamm als rechtswidrig bewertet. Damals, im Mai 2007, hatte die Polizei zahlreiche Wohnungen und linke Zentren durchsucht. Wie begründet der BGH seine Entscheidung?

Der BGH hat dem politisch motivierten Versuch, linke Oppositionelle als sogenannte Terroristen zu diffamieren und mit dem Schwert des Strafrechts zu bekämpfen, eine deutliche Absage erteilt. An den bisherigen Verfahren der Bundesanwaltschaft (BAW) läßt der 3. Strafsenat in seinem ausführlich begründeten, 22seitigen Beschluß in dem Beschwerdeverfahren des Beschuldigten Fritz S. nicht ein gutes Haar. Das beginnt schon damit, daß der BGH nun entschieden hat, daß die Generalbundesanwaltschaft für diese Verfahren nicht einmal zuständig war. Allenfalls die Landeskriminalämter in den einzelnen Bundesländern hätten ermitteln dürfen.

Warum das?

Die Entscheidung basiert auf zwei Erwägungen. Zum einen wird jetzt ausgeführt, daß das, was den Beschuldigten vorgeworfen wird, nämlich eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, schon aus Rechtsgründen nicht zutrifft. Die zwölf Aktionen, die die Grundlage des Terrorismusvorwurfs bildeten, waren weder nach der Art ihrer Begehung noch nach ihren Auswirkungen geeignet, die Bundesrepublik erheblich zu schädigen. Eine Gefährdung von Menschen war erklärtermaßen ausgeschlossen und eine nennenswerte Behinderung des Staates nicht zu erwarten. Ganz ähnlich war ja auch schon die Einschätzung des BGH zum sogenannten mg-Verfahren (mg: militante gruppe, d. Red). Auch hier wurde der Anwendungsbereich des Strafrechtsparagraphen 129a restriktiv ausgelegt und seinerzeit entschieden, daß die mg keine terroristische Vereinigung ist. Die zweite Erwägung besteht darin, daß der BGH bezweifelt, daß überhaupt eine »Vereinigung« im Sinne der Paragraphen 129, 129a vorgelegen hat.

Also auch keine »kriminelle Vereinigung«?

Nein, auch das wird »nachhaltig bezweifelt«. Nach Auffassung des BGH ist nicht einmal belegt, daß die zwölf Aktionen von einer einzigen Organisation durchgeführt worden sind. Er verweist damit die Begründungen der BAW ins Reich der Mutmaßungen und Spekulationen. Damit wird aber diesem ganzen Konstrukt, das die Bundesanwaltschaft und auch der Verfassungsschutz zur Bekämpfung von G-8-Gegnern ersonnen haben, vollständig der Boden entzogen. Zur Abrundung seiner Argumentation weist der BGH schließlich darauf hin, daß die Zuständigkeit der BAW auch nicht aus der »besonderen Bedeutung des Sache« begründet werden kann. Alles in allem eine schallende Ohrfeige für die Karlsruher Ermittler.

Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für weitere Beschuldigte?

Sie hat für alle die gleiche Bedeutung: Die Durchsuchungsbeschlüsse, die zu den Hausdurchsuchungen am 9. Mai 2007 geführt hatten, wurden aufgehoben. Sie sind ebenso rechtswidrig wie die umfangreichen Beschlagnahmen von Computern, persönlichen Gegenständen etc. Die Sachen müssen unverzüglich herausgegeben werden. Als weitere zwingende Konsequenz der BGH-Entscheidung sind die Ermittlungen gegen alle 18 Beschuldigten umgehend einzustellen.

Wie bewerten Sie das unter politischen Gesichtspunkten?

Es ist wiederum deutlich geworden, daß die Bundesanwaltschaft und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz diesen Strafrechtsparagraphen 129a nur dafür instrumentalisieren, um linke Oppositionsbewegungen auszuspionieren. Wir wissen aus einer Mitteilung der Bundesanwaltschaft, daß seit dem 9. Mai 2007 ca. 250 Aktenordner angelegt worden sind. Das ist eine unglaubliche Datenmenge. Doch mit der Entscheidung des BGH ist der Versuch kläglich gescheitert, Gegner des G-8-Gipfels einzuschüchtern und zu diffamieren. Auch die Postdurchsuchungen und der in Hamburg gegen einen der Beschuldigten durchgeführte »große Lauschangriff« sind rechtswidrig.

Wäre es da nicht konsequent, diesen Strafrechtsparagraphen gleich ganz zu streichen?

Das wäre eine vernünftige Konsequenz, denn rechtlich gesehen ist der 129a nichts anderes als ein Fremdkörper in unserem Strafrecht. Er dient nur dazu, Oppositionelle auszuspionieren.

Verwendung: Junge Welt vom 05. Januar 2008
Verwendung zudem: Lokalberichte Hamburg, Printausgabe Nr. 1/2008, Seite 2 und 3, vom 10. Januar 2008
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17. Dezember 2007

Feuer und Flamme der RepressionMassive Behinderung der Demo gegen Sicherheitswahn und Überwachungsstaat in Hamburg. Kundgebungsverbot in der City mit kreativen Aktionen unterlaufen

Rund 4000 Menschen haben am Samstag in Hamburg gegen den Strafrechtsparagraphen 129a (Bildung bzw. Unterstützung einer »terroristischen Vereinigung«), für die Einstellung aller Verfahren, gegen »Sicherheitswahn und Überwachungsstaat« demonstriert. Sie trafen auf etwa 2500 Polizisten, die Innensenator Udo Nagel (parteilos) aus ganz Norddeutschland sowie aus Berlin und von der Bundespolizei angefordert hatte. Trotz der Zusage der Demonstrationsleitung, die vom Oberverwaltungsgericht erst am Abend zuvor festgelegte Route zu akzeptieren, bildeten die Beamten ein dichtes Spalier, aus dem heraus sie die Demonstranten immer wieder mit Schlagstöcken traktierten. Die Demoleitung löste die Veranstaltung daher am Millerntor im Stadtteil St. Pauli nach etwa einem Drittel der genehmigten Wegstrecke selbst auf. Veranstaltungsleiter Bela Rogalla (Die Linke) sprach von einem »gezielten Angriff auf die kollektive Meinungsfreiheit«.

Eine Rednerin kündigte jedoch an, man müsse die Öffentlichkeit nun auf andere Weise erreichen. Und tatsächlich zogen daraufhin viele Demonstranten in größeren und kleineren Gruppen über die Reeperbahn und durch die City.

So kreativ, wie sie endete, hatte die Versammlung auch begonnen: Verkleidet als »Unschuldsengel« oder Weihnachtsmann, war am Mittag vor dem linken Zentrum »Rote Flora« zunächst »Tanzen statt Wanzen« angesagt. Unter dem Motto »Feuer und Flamme der Repression« setzte sich der Demonstrationszug gegen 14.30 Uhr in Bewegung. Doch schon zwölf Minuten später stellte sich den Teilnehmern ein dichtes Spalier behelmter und bewaffneter Polizisten entgegen. Es hieß, einige der Seitentransparente wären zu lang und würden den Auflagen nicht entsprechen. Kurz darauf monierten die Beamten, einige Personen würden das Vermummungsverbot nicht beachten. Zudem wurde das Fortkommen durch »Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten« massiv behindert.

Besser hatten es da nur jene 300 Aktivisten, die bereits zu Beginn der Veranstaltung und im Rahmen des neuen Aktionskonzepts »out of control« Protestinszenierungen auf Gehwegen und Plätzen vorbereitet hatten. Sie wollten damit die »nur scheinbare Allmacht polizeilicher Überwachung« auch optisch ad absurdum führen. Vereinzelt gelang es den Gruppen, bis in die City vorzustoßen. Und nach Auflösung der großen Demo drangen noch einmal rund 1000 Aktivisten bis zur Mönckebergstraße, Hamburgs größter Einkaufsmeile, vor. Hunderte weitere protestierten zeitgleich auf Jungfernstieg und Reeperbahn.

Im dichten Gewühl der Weihnachtsmärkte funktionierte das aus dem Märchen »Hase und Igel« bekannte Konzept hervorragend. Die Ordnungshüter hatten es erkennbar schwer, zwischen Normal- und Protestbürgern zu entscheiden. Wo es den zunehmend frustrierten Polizisten dann doch noch gelang, einzelne Protestierer zu umzingeln, kamen Hunderte weitere um die nächste Ecke. Lautstark riefen sie über Stunden Slogans wie »Wir alle sind 129a« oder »Nein zum Überwachungsstaat«. Bis tief in die Nacht dauerten die Proteste auch im Schanzenviertel.

Senator Nagel ist also mit seinem Vorhaben, jeglichen Antirepressionsprotest aus der Innenstadt fernzuhalten, grandios gescheitert. Eine Niederlage, die sich schon am Vorabend andeutete, als das Oberverwaltungsgericht zwar das City-Verbot bestätigte, zugleich aber den Valentinskamp und die Dammtorstraße freigab – Straßenzüge, die zumindest in die Nähe der Innenstadt führen. Mit Provokationen von seiten seiner Beamten wollte man offenbar einen Grund finden, die Demo auseinanderzujagen oder ihre Teilnehmer zu zermürben. Demoanmelder Andreas Blechschmidt nannte das Vorgehen der Polizei einen politischen Skandal. Er kündigte eine Klage gegen die Innenbehörde an. Insgesamt wurden während der Proteste 25 Personen fest- und 111 in Gewahrsam genommen.

Verwendung: Junge Welt vom 17. Dezember 2007
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15. Dezember 2007

Polizei kündigt Großeinsatz gegen Antirepressionsdemo in Hamburg an. Verbot für City zum Teil aufgehoben

In Hamburg hat die Innenbehörde angekündigt, daß während der am heutigen Sonnabend stattfindenden Demonstration gegen staatliche Repression mehrere tausend Polizeibeamte eingesetzt werden. Begründet wird dies mit einer »Gefahrenprognose«, die Krawalle und »Störungen der öffentlichen Ordnung« voraussagt. Vor allem das Demokonzept »Out of Control« ist der Behörde nicht geheuer. Wie berichtet, wollen sich die Teilnehmer dadurch einem möglichen »Wanderkessel« entziehen und ihren politischen Protest auch außerhalb der eigentlichen Demonstration zum Ausdruck bringen.

Innensenator Udo Nagel (Parteilos) will neben den Einheiten der Bereitschaftspolizei auch spezielle »Festnahme- und Alarmhundertschaften« einsetzen. Das »Komitee für Grundrechte und Demokratie« und der linke Bundestagsabgeordnete Norman Paech kündigten derweil an, die Polizeieinsätze zu beobachten und mögliche Übergriffe zu dokumentieren. Keine Einigung gab es bisher zur Demoroute. Während die Veranstalter darauf bestehen, nicht nur durch menschenleere Straßenzüge geführt zu werden, hatte die Versammlungsbehörde ein vollständiges City-Verbot ausgesprochen.

Das Verwaltungsgericht bestätigte am Freitag, daß es bei einem Marsch über den Jungfernstieg und über die Mönckebergstraße, zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kommen könne, beschloß aber den Valentinskamp und die Dammtorstraße freizugeben. Diese Straßenzüge führen zumindest in die Nähe der Innenstadt. Die Innenbehörde hat angekündigt, die Entscheidung anzufechten.

Samstag, 13 Uhr, Rote Flora, Achidi-John-Platz: Demo gegen Repression und Überwachungsstaat

Verwendung: Junge Welt vom 15. Dezember 2007
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13. Dezember 2007

Repressionsgegner mobilisieren nach Hamburg. Polizei reagiert mit Cityverbot

Die Hamburger Innenstadt wird am Samstag voraussichtlich zum Sperrgebiet. Zumindest gegen rund 5000 aus dem ganzen Bundesgebiet erwartete Demonstranten, die gegen die zunehmende staatliche Repression protestieren wollen, soll sie abgeschottet sein. Geht es nach dem Willen der Hamburger Innenbehörde, dann dürfen die Kundgebungsteilnehmer ausschließlich durch fast menschenleere Straßen ziehen. Der Jungfernstieg und Hamburgs zentrale Einkaufsmeile, die Mönckebergstraße, sind tabu. Diese bleibe den Weihnachtsmännern und -märkten überlassen, bestätigte am Mittwoch auch Polizeisprecher Ralf Meyer. Das linke Veranstaltungsbündnis wird sich das nicht bieten lassen, so Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt am Dienstag nachmittag auf einer Pressekonferenz in der Roten Flora. Auch er selbst habe keine Lust, in einem »Wanderkessel mit dreifachem Polizeispalier« durch öde Viertel geführt zu werden. Deshalb werde gegen das Cityverbot juristisch – notfalls hinauf bis zum Bundesverfassungsgericht – vorgegangen.

Für die Antirepressionsdemo wird seit Wochen mobilisiert. Das überregionale Interesse übersteige die Erwartungen bei weitem, so die Veranstalter. Die Demo könne zu einer der größten Veranstaltungen des linksradikalen Spektrums seit vielen Jahren werden. Dies sei auch notwendig, denn die Bewegung könne ihre politische Stärke erst wieder entwickeln, wenn es gelingt, die zunehmende Repression politisch zu beantworten.

Zahlreiche Gruppen haben unter dem Motto »Out of Control« angekündigt, mit einem völlig neuen Demonstrationskonzept an die Elbe zu kommen. Der Repression soll nicht nur plakativ, sondern ebenso mit einem »Konzept der wirksamen Zerstreuung« entgegengetreten werden. Mit Hilfe der »Weite des Raums« soll »die nur scheinbare Allmacht polizeilicher Überwachung« auch optisch ad absurdum geführt werden. Konkret heißt das: Bei der Demonstration soll es ein ständiges Kommen und Gehen geben. Sowohl am Rande als auch »hinter den Kulissen« werde es spontane »Kontaktbörsen« und für den Staat »irritierende Ereignisse und Protestinszenierungen« geben. Die Demo selbst soll trotzdem »geschlossen und damit kraftvoll« durchgeführt werden.

Daß die Hamburger Veranstaltung allen Manövern der Innenbehörde zum Trotz ein »starker und phantasiereicher Ausdruck des Widerstandes gegen staatliche Kontrollwut und die Verfolgung« sein wird, das betonte am Mittwoch auch die Vorbereitungsgruppe in der Hansestadt. Nicht nur hier heißt es nun: »Rein ins Vergnügen – gegen Repression und Überwachungsstaat!«

Samstag, 15. Dezember, 13 Uhr, vor der Roten Flora. Achidi-John-Platz: »Out of control – Gegen Repression, Überwachungsstaat und Paragraph 129a«, Demonstration. Nähere Infos unter www.antirepressionskampagne-hamburg.tk

Verwendung: Junge Welt vom 13. Dezember 2007
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16. November 2007

Demo_gegen_Razzia_9_MaiBundesgerichtshof rüffelt die Bundesanwaltschaft. Durchsuchung bei G-8-Gegnern wurde zur Anbringung von Abhörwanzen genutzt

Die bundesweite Razzia gegen Kritiker des G-8-Gipfels am 9. Mai dieses Jahres war offenbar rechtswidrig. Das geht aus einem Schreiben des 3. Senats des Bundesgerichtshofes (BGH) an die Bundesanwaltschaft hervor. Das Dokument wurde den Anwälten der von den Untersuchungen betroffenen Personen in Kopie zugestellt. Der BGH verneint darin einen Straftatbestand nach Paragraph 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) und somit auch die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft.

In mindestens einem Fall seien bei den Durchsuchungen Abhörwanzen angebracht worden, sagte die Hamburger Rechtsanwältin Britta Eder am Donnerstag zu junge Welt. Wenn aber schon die Razzia unrechtmäßig gewesen sei, dann sei auch der damit eingeleitete Lauschangriff ein »klarer Rechtsbruch«. Die Abhöraktion sei laut Bundesanwaltschaft mit einer Video- und Telefonüberwachung verbunden gewesen. Mikrofon und Sender seien erst am 14. Juni entfernt worden – und zwar durch ein heimliches Eindringen der Polizei. Aus Akten der Staatsschutzorgane gehe hervor, sagte Eder, daß es von vornherein geplant war, linke Projekte bzw. deren Aktivisten zu belauschen.

Hintergrund der Razzia, bei der allein in Hamburg und Berlin rund 900 Beamte in etwa 40 Büros sowie Wohnungen Linker eindrangen, waren Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft gegen 18 bekannte und weitere unbekannte Personen. Da diese das Ziel hätten, »mit Brandanschlägen und anderen Gewalttaten« den G-8-Gipfel in Heiligendamm zu stören, sei von der Bildung einer »terroristischen Vereinigung« nach Paragraph 129a Strafgesetzbuch auszugehen, hieß es in den damaligen Verlautbarungen der Behörden. Der BGH hält dem jedoch im zitierten Schreiben entgegen, konkret beanstandete Aktionen, wie Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen oder das Besprühen von Gebäuden, seien nicht geeignet gewesen, die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu erschüttern. Und deshalb sei auch der Vorwurf der Bildung einer »terroristischen Vereinigung« unsinnig.

Verwendung: Junge Welt vom 16. Juni 2007
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10. November 2007

KameraIm niedersächsischen Stade werden die 1700 Einwohner eines Stadtviertels rund um die Uhr überwacht: Mit über 300 Videokameras, 100 weitere sollen noch installiert werden. Mit der Begründung, »Straftaten« so besser dokumentieren zu können, hatten die Wohnungseigentümer unlängst beschlossen, alle Plätze, die Haus­eingänge, Fahrstühle und Treppenhäuser sowie die Müllpavillons mit moderner Technik zu überwachen.

Die »Bevölkerung will die Kameras nicht – sie müssen wieder weg«, forderte am Freitag der Vertreter des Stader »Sozialbüros«, Werner Gutmann, im Gespräch mit junge Welt. In der ehrenamtlich betriebenen Einrichtung werden unter anderem Erwerbslose, aber auch Geringverdiener, kostenlos beraten. Rund 70 Prozent der Bewohner des Viertels zählen zu diesem Personenkreises. Seit Installation der Kameras fühlten sich die Bewohner »wie in einem Knast«, sagte ein junger Mann aus der Breslauer Straße.

Solche Einwände zählen bei den Eigentümern der 660 Wohnungen nicht, die sie schon 1986 nach der Pleite der gewerkschaftseigenen Neue Heimat gekauft hatten – zu Spottpreisen und häufig als reines Renditeobjekt. Die Eigentümerversammlung argumentiert laut Gutmann damit, daß die zahlreichen leerstehenden Wohnungen besser vermietet werden können, wenn »gefühlte Sicherheit« ins Viertel einkehre. Für die Kameras zahle das Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« obendrein noch Zuschüsse.

Die ständige Beobachtung sei nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein unzulässiger Eingriff in das »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung«, sagt der Stader Rechtsanwalt Rainer Kattau. Vor der Installation der Kameras hätten deshalb die Mieter zustimmen müssen. Kattau vertritt mehrere Mandanten, bei denen die um 180 Grad schwenkbaren Geräte direkt vor den Wohnungstüren angebracht wurden.

»Das ist weniger dramatisch, als es scheint«, sagt hingegen der Chef der Stader Stadtverwaltung, Dirk Kraska. Rechtliche Probleme gebe es schon deshalb nicht, weil die mit einem Bewegungsmelder ausgerüsteten Kameras auf Privatgrundstücken stünden. Die Aufzeichnungen würden zudem nach sieben Tagen gelöscht. Doch zuvor wird das Filmmaterial laut Gutmann ausgewertet: durch die Hausmeister der Eigentümergemeinschaft. Und jetzt hätten viele Bewohner Angst, daß diese das Material mißbrauchen könnten. Denn die Kontrolleure kontrolliere in Stade niemand. »Das ist der Gipfel der Unverschämtheit«, sagte Jan Korte, Innenpolitiker der Bundestagsfraktion Die Linke, am Freitag gegenüber junge Welt. Zur Auswertung des Filmmaterials müsse geschultes Personal sowie ein Datenschutzbeauftragter eingesetzt werden.

Doch der Wahnsinn kennt in Stade keine Grenzen: An den Mülltonnen seien jetzt auch Chipanlagen installiert worden, berichtete am Freitag der Sprecher der Linkspartei in diesem Viertel, Klaus Stahncke. Die Tonnen ließen sich jetzt nur noch mit Hilfe eines persönlichen Chips öffnen. Damit lasse sich jetzt exakt nachprüfen, wer um welche Uhrzeit Müll eingeworfen habe.

[Dieser Beitrag erschien als Titel-Story in der Jungen Welt vom 10. November 2007. Sie können ihn deshalb hier als PDF-Datei herunterladen.]

Verwendung: Junge Welt vom 10. November 2007
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31. Juli 2007

Dr. Gerhard Bartels
Linkspartei unterstützte verfassungswidrige Verwaltungs- und Kreisreform in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Gespräch mit Gerhard Bartels

Gerhard Bartels ist Sprecher der antikapitalistischen Linken in Mecklenburg-Vorpommern und war bis zur Neuwahl des Landtages 2006 12 Jahre Landtagsabgeordneter in Mecklenburg-Vorpommern. 10 Jahre davon für die PDS

Das Landesverfassungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern hat Ende voriger Woche, die noch in der Zeit der SPD-PDS-Landesregierung beschlossene Verwaltungs- und Kreisreform gestoppt. Fünf Großkreise sollten an die Stelle der 18 Kreise und kreisfreien Städte treten, was laut Gericht dem Recht auf kommunale Selbstverwaltung widerspricht. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Ich bin sehr froh darüber, daß das Gericht der kommunalen Selbstverwaltung einen so hohen Stellenwert beigemessen hat. Mit dem Beschluß wurde eine völlig falsche nur auf die Zentralisierung orientierte Entwicklung gestoppt.

Diese Reform gehörte zu den wichtigsten Vorhaben der alten SPD-PDS-Landesregierung. Etwa 100 Millionen Euro sollten bei Personal- und Sachkosten »eingespart« werden. Hat sich nicht auch Die Linke völlig blamiert?

Die Partei muß sich sagen lassen, daß sie eine Reform unterstützt hat, die nicht nur verfassungswidrig war, sondern die die Rechte der Bürger geschwächt hätte. Wir müssen das Urteil gründlich diskutieren. Auch deshalb, weil in allen Programmen der Linken – von PDS über Linkspartei bis hin zur Partei Die Linke – der kommunalen Selbstverwaltung besondere Bedeutung beigemessen wurde.

Daß eine Verwaltungsreform notwendig ist, bleibt schon wegen der sinkenden Bevölkerungszahlen in Mecklenburg-Vorpommern unbestritten. Doch diese muß demokratischen Anforderungen und dem Ziel einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung entsprechen. Sie darf doch nicht gegen den Widerstand fast sämtlicher Kommunalpolitiker durchgepeitscht werden.

Sie selbst traten wegen der Reform 2004 aus der PDS-Landtagsfraktion aus. Auch andere Abgeordnete verweigerten die Zustimmung. Dennoch gelang es führenden Vertretern der Partei, wie Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, für eine Mehrheit im Schweriner Landtag zu sorgen. Das Hauptargument war: das Regierungsbündnis mit der SPD darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Der Druck ging tatsächlich von der SPD aus, schlimm war, daß viele Genossen dem nachgegeben haben. Die Angst vor dem Verlust von Regierungsverantwortung wog schwerer als die vor der Preisgabe grundsätzlicher Inhalte. Bei den Landtagswahlen hat sich das gerächt. Gemessen an den absoluten Zahlen haben wie jede Menge Wähler in den Nichtwählerbereich verloren. Das müssen wir dringend aufarbeiten.

Wie kommt es, daß sich bei der Linken meist die durchsetzen, denen der Machterhalt wichtiger ist als das eigene Programm?

Viele Genossen – leider nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in Berlin und anderswo – begreifen eine Regierungsbeteiligung als einen Wert an sich. Vergessen ist dabei das Wort von Gregor Gysi, der uns schon 1998, als wir dem ersten Koalitionsvertrag mit der SPD zustimmten, sagte, daß zu einer solchen Regierungskoalition eben auch die Bereitschaft gehört, sich gegebenenfalls wieder zu trennen. Diese Erkenntnis ging schon kurz danach verloren.

Die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung ist ein linkes Grundsatzziel. Es darf niemals aufgebenen werden. Schon gar nicht, wenn man kommunalpolitisch so verankert ist, wie Die Linke in Mecklenburg-Vorpommern. Wir müssen unseren Wählern jetzt deutlich erklären, daß die Zustimmung zu dieser Reform ein Fehler war. Aufarbeiten müssen wir auch, daß 80 Prozent der eigenen kommunalen Mandatsträger immer wieder gegen die Reform gestimmt haben. Innerparteilich wurden diese Kritiker als Betonköpfe und Reformverweigerer abgetan. Die innerparteiliche Demokratie muß wieder eine stärkere Beachtung finden.

Aber auf dem Gründungsparteitag für die Partei Die Linke in Mecklenburg-Vorpommern, der Ende Juni stattfand, sollten einzelne Kreisorganisationen zusammengelegt werden.

Auch diese Bestrebungen geschahen in einem Akt des vorauseilenden Gehorsams. Es widerspricht der innerparteilichen Demokratie, wenn nun zentral festgelegt werden soll, wie sich die Kreisverbände zu bilden haben. Das wäre doch ein Rückfall in einen Zentralismus, den wir überwunden glaubten. Die Entscheidung wurde dann vertagt.

Verwendung: Junge Welt vom 31. Juli 2007
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30. Mai 2007

Gezogene Knarre bei Anti-G8-Demo  in HamburgKnüppel, Wasserwerfer und eine gezückte Knarre beim Polizeigroßaufgebot am Pfingstmontag in der Elbmetropole: Hamburgs Innensenator Udo Nagel (CDU) war am Dienstag voll des Lobes für das »professionelle und konsequente Handeln« seiner uniformierten Beamten.

Diese hätten einen friedlichen Verlauf der Demonstration gesichert, erklärte er frei nach George Orwell. Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) äußerte sich mit dem Einsatz rund um den ASEM-Gipfel vollends zufrieden. »Wir haben mit viel Polizei, mit hohem Kräfteeinsatz dort, soweit es ging, Sicherheit gewährleistet, zumindest was das Demonstrationsgeschehen betrifft«, beschönigte GdP-Chef Konrad Freiberg im Norddeutschen Rundfunk die Gewalteskalation. »Man kann sagen, daß der Polizeieinsatz geglückt ist.« Geglückt? Unzählige Demonstranten bekamen die Knüppel seiner Kollegen zu spüren, insgesamt nahmen die Einsatzkräfte nach eigenen Angaben 34 Personen vorläufig fest, 86 kamen in Gewahrsam.

Dabei hatten mehr als 6000 Gegner der kapitalistischen Globalisierung unter dem Motto »Gate to global resistance – Gegen den G-8- und EU-Gipfel« gegen das das sogenannte ASEM-Meeting der Europäischen Union protestiert – friedlich, trotz anhaltender Polizeiprovokationen. Streckenweise war die Demonstration von einem fünfreihigen Spalier behelmter Kampfmaschinen in grün umzingelt. 3000 Polizeibeamte waren im Einsatz, Pfefferspray und Schlagstöcke griffbereit, dazu Dutzende Wasserwerfer, gepanzerte Fahrzeuge – das Demonstrationsrecht war an diesem Tag in der Elbmetropole zur Farce verkommen. Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt löste deshalb die Veranstaltung am Rödingsmarkt offiziell auf. Die Polizei verhinderte den Abzug der Demonstranten, die folgende Randale war programmiert. Die Journaille kam auf ihre Kosten: »Militante G-8-Gegner randalieren sich warm«, hieß es später etwa bei Spiegel online.

Ganze drei Stunden hatten die Demonstranten vor Auflösung des Marsches gebraucht, um überhaupt von der nahegelegenen Reeperbahn in die Nähe des Rathauses zu gelangen. Dort tagten die 43 Außenminister aus 27 Ländern der Europäischen Union und 16 ihrer asiatischen »Partnerstaaten«. Protest von unten sollte ihnen nicht zugemutet werden. Politisch begründete dies am Dienstag Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD): »Warum demonstriert man eigentlich gegen eine Konferenz, in der Europäer und Asiaten versuchen, ein gemeinsames Augenmerk auf verschiedene Konfliktherde dieser Welt zu richten?« Steinmeier meinte weiter, es sei »geradezu eine Pflicht, in einer Situation, in der wir auf dieser Welt viel zu viele Konflikte haben, nach Partnern zur Lösung von Konflikten zu suchen«. Es sei ein »großer Erfolg«, daß in Hamburg so viele an einem Tisch säßen, die zu »Konfliktherden« – etwa die Kriege in Afghanistan und im Irak – gemeinsame Ansichten austauschten. »Das ist ein Wert an sich, und den sollten wir verteidigen, auch vor denjenigen, die das kritisieren, wenn auch vielleicht nicht im vollen Wissen über das, was wir hier tun«, so Steinmeier.

»Demonstrationen müssen hör- und sichtbar sein«, kritisierte dagegen Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, das brutale Vorgehen der Polizei. Die Auflagen und das massive Auftreten der Polizei hätten die Demonstra­tionsfreiheit eingeschränkt. Es sei nicht akzeptabel, daß Demonstranten »in einem Wanderkessel der Polizei durch eine menschenleere Innenstadt« laufen sollen. Das Vorgehen der Hamburger Sicherheitsbehörden, die eine »Null-Toleranz-Strategie« gegen Demonstranten ausgerufen hatten, sei nicht zu akzeptieren und werfe für den G-8-Gipfel seine Schatten voraus. Schließlich habe die Polizei die Demonstration als eine Art Generalprobe für die bevorstehenden Proteste beim G-8-Gipfel in Heiligendamm betrachtet.

Ähnlich argumentierte auch die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth: »Demonstrationen sollen etwas darstellen, etwas zeigen, die sollen in Hör- und Sichtweise stattfinden von denen, die es betrifft«, betonte die Parteichefin im TV-Sender N24. Sie habe Verständnis dafür, daß die Veranstalter die Demonstration aufgelöst hätten.

Unkommentiert blieb der Skandal, daß ein Polizeibeamter kurz nach Auflösung der Demonstration am Montag seine Waffe gezückt hatte: »Ein isolierter Polizist fühlte sich durch Stein- und Flaschenwürfe derart bedrängt, daß er seine Dienstwaffe zog und kurz davor war, einen Warnschuß abzugeben. Er flüchtete sich in seinen Wagen«, beschönigte Spiegel online die zugespitzte Situation. Zur Erinnerung: Bei den G-8-Protesten in Genua im Juni 2001 war der Demonstrant Carlos Guiliani von einem angeblich »in Bedrängnis« geratenen Polizeibeamten erschossen worden.

Der vorstehende Artikel ist ein Gemeinschaftsprodukt mit JW-Kollegen Rüdiger Göbel. Er erschien als Teil einer Schwerpunktseite in der Jungen Welt vom 30. Mai 2007. Lesen Sie dazu auch das Interview »Die Polizei war gewaltbereit« mit Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt und die jW-Kolumne Gerichtsurteil: Vorbeugende Haft bei Blockaden rechtswidrig. Sie können sich die Schwerpunktseite hier aber auch als PDF-Datei downloaden (> 500 kb).

Verwendung: Junge Welt vom 30. Mai 2007



30. Mai 2007

Kurz vor den geplanten Blockadeaktionen gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm bringt ein Urteil des Landgerichts Lüneburg Klarheit in die Debatte um die rechtliche Bewertung von Ingewahrsamnahmen.

In einer in diesen Tagen veröffentlichten Entscheidung (Geschäftszeichen 1 T 38/01 21 A XIV 1/2001 L) heißt es, daß die dreitägige Ingewahrsamnahme des Antiatomaktivisten Jochen Stay beim Castortransport nach Gorleben 2001 rechtswidrig war. Stay war damals am Rande einer Blockadeaktion in Gewahrsam genommen worden – angeblich, um eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern. Demgegenüber erklärt das Gericht, daß die Teilnahme an einer Blockadeaktion nur eine Ordnungswidrigkeit darstelle und daraus keine erhebliche Gefährdung der Allgemeinheit resultiere. Weiter heißt es im Urteil: »Ebenso wenig ist der bloße Aufenthalt in einer Demonstrationsverbotszone geeignet, etwa das Merkmal einer erheblichen Gefährdung der Allgemeinheit zu bejahen.«

Lea Voigt, Sprecherin der Kampagne »Block G 8«, forderte am Dienstag von der Polizei, die Vorbereitungen für das illegale massenhafte Einsperren von Blockadeaktivisten einzustellen. »Wir lassen uns nicht einschüchtern und werden der G 8 unser entschiedenes ›Nein‹ entgegenstellen.«

Die Kampagne Block G 8 hat jüngst ihr Büro im Protestzentrum Rostock-Evershagen bezogen. »Die Mobilisierung hat alle Erwartungen übertroffen: Tausende Menschen haben sich bundesweit in Aktionstrainings gemeinsam vorbereitet. Klar ist: Wir werden uns von unserem Vorhaben nicht abhalten lassen. Wir rechnen damit, daß über 10000 Menschen die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm blockieren werden«, so Martin Schmalzbauer, Sprecher der Kampagne Block G 8 abschließend.

Der vorstehende Artikel ist Teil einer Schwerpunktseite in der Jungen Welt vom 30. Mai 2007. Lesen Sie dazu auch das Interview »Die Polizei war gewaltbereit« mit Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt und den Titel Warmprügeln für G 8. Sie können sich die Schwerpunktseite hier aber auch als PDF-Datei downloaden (> 500 kb).

Quelle: Junge Welt vom 30. Mai 2007



30. Mai 2007

Hamburger Polizei verhinderte Abzug der Demonstranten und sorgte so für offensichtlich gewollte Randalebilder. Ein Gespräch mit Andreas Blechschmidt

Andreas Blechschmidt war der Anmelder der Demonstration gegen das EU-Asien-Teffen am Pfingstmontag in Hamburg

Es ist eine Seltenheit, daß eine Demonstration von seiten der Veranstalter vorzeitig aufgelöst wird. Warum kam eine Fortsetzung des Protestzugs gegen das EU-Asien-Treffen am Montag in Hamburg für Sie nicht Frage?

Das war ein gezieltes politisches Signal. Wäre am Rödingsmarkt nicht abgebrochen worden, hätten wir anschließend durch eine menschenleere City in einem Polizeiwanderkessel ziehen müssen. Das wollten sich sowohl die Veranstalter als auch die Unterstützer der Demonstration nicht bieten lassen. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, an dem Punkt der Demoroute Schluß zu machen, der dem Hamburger Rathaus – dem Tagungsort der EU- und ASEM-Außenminister – am nächsten ist. Die dort ursprünglich geplante Kundgebung war uns bekanntlich höchstrichterlich verboten worden.

Der Abbruch erfolgte also nicht als Reaktion auf gewalttätige Machenschaften durch Autonome und »Randalierer«?

Die Auflösung war gerade umgekehrt vor allem eine Reaktion auf das martialische und versammlungsfeindliche Agieren seitens der zu Tausenden aufmarschierten Polizei. Es ist einfach kein Zustand, in einem dreireihigen Spalier von Polizisten in Kampfmontur durch die Straßen zu ziehen. Es ist der großen Besonnenheit der Demonstranten zu verdanken, nicht auf diese Provokationen angesprungen zu sein und damit einen friedlichen Protest ermöglicht zu haben.

Warum kam es aus Ihrer Sicht am Ende doch zu Ausschreitungen?

Es ist das verbriefte Recht eines jeden Versammlungsteilnehmers, nach deren Auflösung den Ort des Geschehens umgehend verlassen zu können. Genau das hat die Hamburger Polizei durch Errichtung einer Kette aber verhindert. Das hat die Situation auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Provokationen und Einschüchterungen so aufgeheizt, daß es fast schon zwangsläufig zu Gewalttätigkeiten kommen mußte. Die Eskalation geht deshalb aus meiner Sicht eindeutig auf das Konto der Polizeieinsatzleitung.

Würden Sie sagen, die Eskalation wurde gezielt provoziert?

Ich glaube, daß die Polizei zu solchen Gelegenheiten die Eskalation zumindest bewußt in Kauf nimmt, um im nachhinein ihre völlig überzogenen Gewaltprognosen rechtfertigen zu können. Dazu gehört es, im Vorfeld ein Klima der Einschüchterung, Stigmatisierung und Kriminalisierung zu schaffen. So hatte der Hamburger Polizeipräsident tatsächlich behauptet, daß im Falle einer Kundgebung vor dem Rathaus die Gefahr eines Abbruchs des Gipfeltreffens bestehen würde. Das ist natürlich Nonsens und spiegelt nur den Wunsch von Polizei und politisch Verantwortlichen wider, das Versammlungs- und das Recht auf freie Meinungsäußerung systematisch auszuhöhlen.

In den bürgerlichen Medien war von 1000 bis 2000 »Gewaltbereiten« oder »Randalierern« die Rede. Wie haben Sie die Demonstration wahrgenommen?

Noch einmal: Ich habe vor allem die Polizei als gewaltbereit erlebt. Im übrigen beteilige ich mich nicht an solchen Abzählspielchen, die letztlich nur das Ziel verfolgen, die Demonstranten in vermeintlich gute und böse zu spalten. In Hamburg sind am Montag mehr als 6000 Menschen über Stunden friedlich für ein gemeinsames Anliegen auf die Straße gegangen, und das trotz aller davor beschworenen Gewaltszenarien.

War die Hamburger Demo eine gelungene Generalprobe für Heiligendamm? Oder könnten die kommenden G-8-Proteste durch die in den Medien dominanten Bilder von Randalen diskreditiert worden sein?

Zunächst bin ich nicht so vermessen, bei der Masse an Menschen und Gruppen, die zu den G-8-Protesten mobilisieren, von einer Generalprobe zu reden. Aber natürlich ist es ein ermutigendes Zeichen, daß schon gut eine Woche vor dem Gipfelgeschehen so viele Menschen für ihre Forderungen nach einer gerechteren Weltordnung auf die Straße gegangen sind. Die Rezeption in den bürgerlichen Medien ist jedenfalls ganz bestimmt nicht Kriterium für unsere Mobilisierung.

Aber fürchten Sie nicht, daß derlei Bilder Menschen vom Demonstrieren abschrecken?

Die bundesweiten Razzien am 9. Mai haben der Anti-G-8-Bewegung sogar neue Sympathien eingebracht. Und auch die Demo in Hamburg hat gezeigt, daß die Leute der Legendenbildung der Sicherheitsorgane nicht auf den Leim gehen oder sich vielmehr dadurch erst recht veranlaßt sehen, für ihre Bürgerrechte zu demonstrieren.

Das vorstehende Interview meines jW Kollegen Ralf Wurzbacher ist Teil einer Schwerpunktseite in der Jungen Welt vom 30. Mai 2007. Lesen Sie dazu auch den Artikel Gerichtsurteil: Vorbeugende Haft bei Blockaden rechtswidrig sowie den Seitentitel Warmprügeln für G 8. Sie können sich die Schwerpunktseite hier aber auch als PDF-Datei downloaden (> 500 kb.)

Quelle: Junge Welt vom 30. Mai 2007



23. Mai 2007

Anti-EU-ASEM-Pressekonferenz Rote Flora 22_05_07Demonstrationsverbot rund um das »Asia-Europe-Meeting« in Hamburg. Bündnis erwartet Pfingstmontag 10000 Protestierer

Mit »Null Toleranz« und »niedrigen Einsatzschwellen« will Hamburgs Innensenator Udo Nagel (parteilos) den Protesten gegen das sogenannte »Asia-Europe-Meeting« (ASEM) am Pfingstmontag begegnen. Die Proteste gegen das Treffen, zu dem sich am 28. und 29. Mai 43 Außenminister aus 27 Ländern der Europäischen Union und aus 16 asiatischen »Partnerstaaten« in der Hansestadt angekündigt haben, gelten Nagel als »Generalprobe« vor den G-8-Protesten in Heiligendamm. Folgerichtig soll auch in Hamburg ein weiträumiges Demonstrationsverbot gelten, wenn sich die erwarteten 10000 Demonstranten auf der Hamburger Reeperbahn versammeln. Daß der Aufzug dann nur durch menschenleere Straßen, weitab vom eigentlichen Tagungsgeschehen, führen soll, will sich das Demo-Bündnis »Dissent« aber nicht bieten lassen. Bis zur letzten Instanz werde man dagegen gerichtlich vorgehen, betonte Bündnissprecher Andreas Blechschmidt am Dienstag auf einer Pressekonferenz in der Roten Flora.

Daß der Protest sowohl in Heiligendamm als auch in Hamburg bis »an die Ohren der Gipfelteilnehmer« dringt, sei legitim, betonte das Bündnis. Es kritisiert, daß die EU mit ihrer ASEM-Konferenz nur »eigene globale Interessen« und »weitere Ausbeutung und Unterdrückung« fremder Länder durchsetzen will. Doch damit habe die »kapitalistische Globalisierung« auch ein Namen, sie sei »greifbar« und somit auch »angreifbar«. Deutlich kritisierte das Bündnis die »zunehmende Kriminalisierung« der Globalisierungsgegner. Die Razzien am 9. Mai hätten »absolut nichts« ergeben, was für die Justiz verwertbar sei. Spaltung der politischen Bewegung und Einschüchterung möglicher Teilnehmer der Proteste sei das Ziel gewesen, aber das habe nicht funktioniert.

Das mußte indirekt auch der stellvertretende Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, Manfred Murck, bestätigen. Er erklärte gegenüber der Presse, daß der staatliche Versuch, durch die Razzia die Gegner der Globalisierung in »gewaltfreie« und »gewalttätige« aufzuteilen, weitgehend schiefgegangen sei. Statt dessen seien »Einheit« und »Mobilisierungskraft« der Protestierer gewachsen.

Nun versucht die Polizei, gegen den Versammlungsleiter der Demonstration am Pfingstmontag, Fritz Storim, vorzugehen. Das Vertrauen, daß er im Ernstfall »mäßigend« auf die Demonstranten eeinwirken könne, sei nicht gegeben, so Polizeipräsident Werner Jantosch. Storim komme als Versammlungsleiter nicht in Frage, weil gegen ihn ein Ermittlungsverfahren nach dem Strafrechtsparagraphen 129a (»Bildung einer terroristischen Vereinigung«) laufe. Die Bündnisvertreter setzten dem entgegen, daß die Unschuldsvermutung mit einer solchen Argumentation von vorn herein außer Kraft gesetzt werde. Sie wollen auch diesbezüglich eine gerichtliche Klärung herbeiführen.Und im Übrigen werde man sich auch nicht bei den Transparenten vorschreiben lassen, welche Länge diese besitzen oder wo und wie sie getragen werden. Auch einen Wanderkessel der Polizei bezeichnete Blechschmidt als nicht akzeptabel.

So aber gerät Innensenator Nagel mit seiner übertriebenen Sicherheitshysterie in arge Bedrängnis. Denn dem Hartliner stehen zur Durchsetzung seiner Auflagen am Pfingstmontag nur 1000 eigene Bereitschaftspolizisten zur Verfügung. Tausende weitere Beamte will Nagel deshalb aus Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Bremen zusammenziehen. Doch selbst wenn dies gelingt, dürfte sein Ziel, auch die 1400 hochrangigen Fachbeamten, die ab 28. Mai in Hamburg erwartet werden, von ihrer Außenwelt weitgehend hermetisch abzuriegeln, kaum durchsetzbar sein. Bei dem Demo-Bündnis gab man sich indes sehr optimistisch, daß die Demo am Pfingstmontag ein »sehr gelungener« Auftakt der G8 Proteste werden wird.

* Hamburg, 28. Mai, 12 Uhr, Reeperbahn: Demo gegen »Asia-Europe-Meeting« (ASEM), www.hamburg.dissentnetzwerk.org

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07. Mai 2007

Härtefallregelung für Arbeitserlaubnis gilt nicht für alle Nachfahren von Opfern des Faschismus. Ein Gespräch mit Jan Sürig

Jan Sürig ist Rechtsanwalt in Bremen

Sie vertreten Zuwanderer der Sinti und Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien, die darauf klagen, als Nachfahren von Opfern des deutschen Faschismus anerkannt zu werden. Warum ist das so wichtig?

Meine Mandanten wollen eine Arbeitserlaubnis ohne Vorrangprüfung erhalten. Mit einer Vorrangprüfung kontrolliert die Bundesagentur für Arbeit, ob ein Beschäftigungsangebot von einem Deutschen oder von Zuwanderern aus der Europäischen Union angenommen werden kann. Erst wenn dies nicht der Fall ist, erhält ein geduldeter Zuwanderer eine Arbeitserlaubnis. In der Dienstanweisung zu dieser Beschäftigungsverfahrensverordnung sind aber auch Härtefälle definiert. Jüdische Zuwanderer erhalten demnach eine solche Arbeitserlaubnis ohne die Vorrangprüfung.

Das ist auch in Ordnung, denn die Bundesrepublik Deutschland ist Rechtsnachfolgerin des »Dritten Reiches«. Wenn sie den Enkeln der NS-Verfolgten nun diese kleine Anerkennung zollt, bekennt sie sich damit zu ihrer historischen Verantwortung. Doch nicht nur die Juden, sondern auch die Sinti und Roma, wurden von den Schergen des NS-Regimes verfolgt. Auch ihre Nachkommen wollen deshalb »in den Genuß« dieser Härtefallregelung kommen. Das ist wichtig, denn in sämtlichen Rechtsverfahren, bei denen es um Aufenthaltserlaubnisse geht, wird den Betroffenen immer wieder vorgehalten, ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Arbeit zu sichern.

Die Dienstanweisung benennt aber ausdrücklich nur die jüdischen Zuwanderer?

Das ist richtig. Doch aus dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes ergibt sich auch, daß niemand nur wegen seiner Herkunft benachteiligt oder diskriminiert werden darf. Eine Ungleichbehandlung ist nur zulässig, wenn es sachliche Gründe gibt. Bezüglich der Verfolgung von Sinti und Roma durch die Nazis ist ein solcher Grund nicht erkennbar. In dem jetzt verhandelten Fall geht es um eine Roma, die 1999 aus dem Kosovo nach Bremen kam. Es ist nicht nachvollziehbar, daß ihr die Ausländerbehörde die Härtefallregelung verweigert.

Mit welcher Begründung wurde der Antrag dann aber abgelehnt?

Mit der Begründung, daß diese Härtefallregelung nur sehr eng auszulegen sei. Sie beziehe sich eben nur auf die Juden, hieß es.

Dagegen haben Sie Widerspruch bei Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) eingelegt. Doch auch der Senator hat Ihrem Antrag schließlich widersprochen. Wie begründete er seine Entscheidung?

Er meint, daß die Bildung einer Analogie zugunsten der Roma »willkürlich und abwegig« gewesen sei. Das finde ich empörend, denn mit dieser Formulierung wird das erlittene Unrecht der Sinti und Roma nachträglich einfach geleugnet. Der Beamte, der das bearbeitet hat, hat bezüglich seiner Wortwahl wohl nicht nachgedacht. Doch passiert so etwas nur dann, wenn einem das Unrecht dieser Verfolgung überhaupt nicht bewußt ist. Als Anwalt erlebe ich häufig, wie geduldete Ausländer durch die Behörden diskriminiert werden. Doch eine solche Formulierung, hätte selbst ich nicht erwartet.

Sehen Sie besondere Gründe, warum die Verfolgung der Sinti und Roma nur am Rande wahrgenommen oder wie jetzt in Bremen sogar geleugnet wird?

Die Roma und Sinti haben keine Lobby. Dazu kommt der insgesamt unsensible Umgang mit der eigenen Geschichte. Vielfach ist das bis heute von starker Verdrängung, aber auch von Diskriminierung geprägt. Gegen den Bescheid des Innensenators haben wir deshalb nun eine Klage beim Bremer Verwaltungsgericht eingereicht. Ähnliche Klagen sind in Oldenburg anhängig.

Ein Sprecher des Bremer Stadtamtes hat darauf verwiesen, daß die politische und rechtliche Verantwortung nicht in Bremen, sondern beim Gesetzgeber, also beim Bund liegt.

Das ist falsch, denn in Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes wird festgestellt, daß die beschriebenen Grundrechte nicht nur für die gesetzgebende, sondern auch für die vollziehende Gewalt, und auf allen staatlichen Ebenen, verbindlich sind. Auch der Innensenator wäre deshalb zur Einhaltung dieser Grundrechte verpflichtet gewesen.

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12. April 2007

Datenschützer in Schleswig-Holstein kritisieren »unkontrollierte Datenerhebung« durch Hartz-IV-Behörden

In Schleswig-Holstein hat das »Unabhängige Landeszentrum für den Datenschutz« (ULD) heftige Kritik an den Arbeitsgemeinschaften nach SGB II (ARGE) geübt. Diese aus Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit und der kommunalen Sozialämter gebildeten Einrichtungen sind seit Einführung der Hartz-Gesetze in vielen Kommunen für die Leistungsgewährung und Förderung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher zuständig. Doch die damit verbundene Datenerhebung sei unkontrolliert und von zahlreichen Mißbräuchen gegenüber den Erwerbslosen gekennzeichnet, heißt es in einem jetzt vorliegenden ULD-Bericht. Handlungsbedarf sehen die Datenschützer vor allem bei den Hausbesuchen. Diese werden von den Hartz-IV-Behörden durchgeführt, um »eheähnliche Bedarfsgemeinschaften« aufzuspüren. Das sei zwar generell zulässig, heißt es, doch die dabei genutzten Observationsmethoden verletzten vielfach die gesetzlichen Datenschutzbestimmungen.

Anhand von Akten verschiedener Jobcenter war den Datenschützern zuvor aufgefallen, daß bei solchen Hausbesuchen, wenn die Betroffenen selbst nicht anzutreffen waren, auch die Briefkästen kontrolliert wurden. In weiteren Fällen wurden auch Nachbarn oder Minderjährige befragt und zwar, ohne dies den Erwerbslosen anschließend mitzuteilen. Dies sei ebenso unzulässig wie etwa der Einsatz von Videokameras oder das Durchwühlen verschlossener Schränke. Hausbesuche dürften generell nur als »letztes Mittel« einer Sachverhaltsaufklärung genutzt werden, mahnen die Datenschützer. Finden sie dennoch statt, müsse ihr Ablauf durch datenschutzkonforme Vorgaben genau geregelt sein.

Rechtsverstöße ähnlicher Art stellt der rund 180 Seiten starke Bericht auch im Bereich der Datenverarbeitung fest. Bemängelt wird, daß es kaum datenschutzkonforme Dienstanweisungen gebe. Bei einem Kontrollbesuch bei der ARGE in Lübeck seien deshalb in acht von zehn nach einem Zufallsprinzip gezogenen Akten schwerwiegende Datenschutzverletzungen festgestellt worden. Bemängelt wird vor allem, daß vielfach auch Daten aus dem persönlichen Umfeld von Erwerbslosen registriert werden. Gespeichert werden dürfe aber nur das, was für die Berechnung des Leistungsbezugs oder die Vermittlungsleistungen der ARGE unabdingbar sei. Mahnend hebt der Bericht hervor, daß die Weitergabe solcher personenbezogenen Daten an potentielle Arbeitgeber oder an sogenannte Maßnahmeträger, etwa im Bereich der Ein-Euro-Jobs oder des Bewerbungstrainings, nur dann zulässig ist, wenn die Erwerbslosen explizit ihr Einverständnis erklärt haben.

Das aber betrifft umgekehrt auch das sogenannte Profiling, mit dem Maßnahmeträger eine Vielzahl nicht nur fachlicher, sondern auch persönlicher Einschätzungen über Erwerbslose sammeln. Auch die Weitergabe solcher Daten habe keine Rechtsgrundlage, wenn der Erwerbslose diesem nicht ausdrücklich zustimmt. Besonders kurios ist für die Datenschützer jedoch der Umgang der Hartz-IV-Behörden mit mildtätigen Vereinen. Unter Androhung eines Bußgeldes waren solche Vereine, die etwa Kaffeemaschinen oder andere Sachspenden an Erwerbslose weitergereicht hatten, von den Hartz-IV-Behörden mehrfach angeschrieben worden, um generelle Angaben über diese Spenden zu erhalten. Auch dafür gebe es keine Rechtsgrundlage, wird kritisiert. Das ULD fordert deshalb die Ausarbeitung genauer und datenschutzkonformer Dienstanweisungen für alle Mitarbeiter in den Hartz-IV-Behörden.

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10. April 2007

Chef des Hamburger Verfassungsschutzes will »extremistische« Abendschule beobachten

In Hamburg hat der Chef des Verfassungsschutzes, Heino Vahldieck (CDU), kurz vor Ostern die Beobachtung der neuen »Marxistischen Abenschule« (MASCH) angekündigt. »Wir haben die Aufgabe, alles zu beobachten, was extremistisch ist«, begründete Vahldieck sein Vorhaben. Der neue Bildungsverein will Ende April mit einer großen Auftaktveranstaltung seine Arbeit aufnehmen. Im Stadtteil Wilhelmsburg wird dabei der Schauspieler Rolf Becker das »Kommunistische Manifest« vorlesen. Der Chefkommentator der Springer-Gazette Harburger Anzeigen und Nachrichten (HAN) wußte umgehend zu berichten, damit rückten die Marxisten ins »Zentrum der politischen Unwägbarkeiten«.

Wilhelmsburg ist ein typischer Arbeiterstadtteil im Herzen von Hamburg. Heute sind hier jedoch fast 30 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Gut ein Viertel der fast 50000 Einwohner sind Ausländer, rassistische Ressentiments verbreitet. Die Bildungsangebote der MASCH sollen sich auch deshalb vor allem an Arbeiter und Erwerbslose richten, betont Vereinsvorstand Tilo Schönberg. Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehören unter anderem Hafenbetriebsrat und DKP-Mann Bernt Kamin und der Vorsitzende der Stadtteilorganisation des Sozialverbandes Deutschland, Ronald Wilken.

Infos: www.masch-wilhelmsburg.de, Auftaktveranstaltung am 26. April um 19 Uhr im Bürgerhaus Wilhelmsburg

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5. April 2007

Hamburger Jugendliche verteidigen afghanische Mitschüler gegen angekündigte Ausweisung

»Was wir allein nicht schaffen, schaffen wir zusammen«. Unter diesem Motto feierten am Dienstag nachmittag gleich mehrere hundert Schüler mitten auf dem Hamburger Rathausmarkt einen ersten Teilerfolg in ihrem Kampf gegen die drohende Abschiebung afghanischer Mitschüler. Grund zum Feiern gab es jedenfalls reichlich, denn 35 afghanische Familien, mitsamt ihren schulpflichtigen Kindern, wollte Innensenator Udo Nagel (parteilos) zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon abgeschoben haben. Still und möglichst leise. Doch dann zogen Tausende Schüler der Erich-Kästner- und der Rudolf-Roß-Gesamtschule sowie aus Stellingen und Wilhelmsburg immer wieder auf Straße. Sie sammelten Unterschriften für den Verbleib ihrer Mitschüler, zogen mit Lichterketten vor das Rathaus und an die Alster. Daraufhin hob Nagel die Abschiebeverfügungen »für mindestens ein Jahr« wieder auf – wegen der Sicherheitslage in Afghanistan, die sich »aktuell« besonders zuspitze, hieß es offiziell.

Afghanische Flüchtlinge ohne schulpflichtige Kinder will Nagel allerdings weiterhin abschieben, wogegen GEW-Landeschef Klaus Bullan am Dienstag in seiner Rede protestierte: Wenn die Sicherheitslage tatsächlich so bedrohlich sei, müsse der Abschiebestopp selbstverständlich für alle gelten.

Ver.di-Landeschef Wolfgang Rose gratulierte den Schülern zu ihrem Erfolg. Wenn das Auswärtige Amt die Lage in Afghanistan als »unverändert lebensgefährlich« einstufe, Nagel aber weiter dorthin abschieben wolle, sei das eine »perfide Situation«. Trotz schlechten Wetters war die Stimmung dann so angeheizt, daß sich gleich nach dem Livekonzert afghanischer Gruppen und Schülerbands zwischen Alster und Rathaus erneut eine Menschenkette gegen Abschiebungen bildete.

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24. Februar 2007

Gipfeltreffen Anfang Juni in Heiligendamm wird weiträumiger abgeriegelt als bislang angenommen. Polizei steckt »erweiterten Maßnahmenraum« ab

Während des G-8-Gipfels Anfang Juni im Ostseebad Heilgendamm will die Polizei eine erweiterte Sicherheitszone einrichten, die über den durch einen derzeit im Bau befindlichen Sperrzaun abgetrennten Bereich weit hinausgehen soll. Das gab der Chef der mit der Absicherung des Gipfels befaßten polizeilichen Sondereinheit »Kavala«, Knut Abramowski, am Donnerstag bei einem Treffen mit Aktivisten der G-8-Gegner bekannt. Eigentlich hatte es bei dem Treffen zwischen Vertretern der »G-8-Protest-CampAG« und der Polizei um die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für Globalisierungskritiker während des Gipfels gehen sollen.

Nach Vorstellungen der »Kavala« sollen Proteste in einem um fünf bis zehn Kilometer »erweiterten Maßnahmenraum« um den Zaun herum während des Gipfels »unmöglich« sein, teilte die »CampAG« in einer am Donnerstag verbreiteten Erklärung mit. Ende Januar hatte die Landesregierung der Sondereinheit für die Zeit vom 25. Mai bis 15. Juni auch die Funktion einer Versammlungsbehörde für die Hansestadt Rostock und die Landkreise Bad Doberan und Güstrow übertragen. Der »Maßnahmenraum« umfaßt neben Heiligendamm die Gemeinden Kühlungsborn und Bad Doberan und reicht im Osten bis an die Rostocker Stadtgrenze. Als »unproblematisch« sieht die Polizei den Angaben zufolge lediglich Aktionen und Camps westlich von Reddelich, Steffenshagen, Wittenbeck, Kühlungsborn, südlich von Bad Doberan sowie in Rostock selbst an.

Das »mit heißer Nadel gestrickte Sicherheitskonzept der Polizei« widerspreche »den zu erwartenden Realitäten des Protestes«, heißt es in der Reaktion der G-8-Gegner. Man sei sich sicher, daß wenigstens die Gemeinde Bad Doberan aus der Sicherheitszone herausgenommen werden müsse.

»Immer neue gesperrte Bereichen werden nicht dazu beitragen, daß weniger Menschen zum Protest nach Mecklenburg-Vorpommern kommen, sondern nur dazu, daß er sich unorganisiert äußert und sich seine Plätze selbst sucht«, wird Monty Schädel, Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft und Koordinator im Rostocker Bündnis zur Vorbereitung der G-8-Proteste, in der Erklärung zitiert.

Die G-8-Protestvorbereitung benötigt nach eigenen Angaben für die Zeit vom 1. bis zum 8. Juni 2007 Unterbringungsmöglichkeiten für rund 15000 Teilnehmer. Außerdem sollen in den Camps Gesprächs- und Kulturveranstaltungen stattfinden, bei denen sich die Protestteilnehmenden, aber auch Einwohner der Region und Gäste, über die Folgen der Globalisierung verständigen und Alternativen diskutieren können.

Weil »Kavala« die Schotten dicht macht, fürchtet die Hamburger Polizei, daß sich ein Teil der Aktionen an die Elbe verlagern könnte. Im Gegensatz zu ihren schleswig-holsteinischen Kollegen, die im Juni 1000 Beamte nach Heiligendamm schicken wollen, verweigern sich die Hamburger, wie Polizeisprecher Ralf Meyer dieser Tage bekanntmachte. Begründet wird dies mit dem Asien-Europa-Treffen, zu dem sich Ende Mai bis Anfang Juni rund 1400 politische Spitzenbeamte und mehrere Dutzend Außenminister aus ganz Europa und Asien in der Elbmetropole einfinden werden. Laut Meyer fürchtet die Polizeiführung, daß dieses Treffen für die »linken Kräfte« zu einer »Generalprobe« für Aktionen gegen den G-8-Gipfel werden könnte. Denkbar sei aber auch, daß sich G-8-Gegner, kämen sie in Heiligendamm und Umgebung nicht durch, während des G-8-Treffens auf Hamburg umorientieren könnten, so der Polizeisprecher. Aus diesem Grunde habe der Stadtstaat nun selbst polizeiliche Unterstützung bei anderen Bundesländern beantragt. Insgesamt werden Anfang Juni in Heiligendamm rund 16000 Polizeibeamte der Länder sowie 2000 Bundespolizisten erwartet.

[Der Artikel ist ein gemeinsames Produkt von Joern Boewe und Andreas Grünwald]

Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/02-24/025.php



13. Februar 2007

Hamburg: Mit Volksbegehren sollen Hürden für direkte Mitbestimmung gesenkt werden. Unterstützung von Oppositionsparteien und Gewerkschaften

In Hamburg beginnt am heutigen Dienstag die dreiwöchige Eintragungsfrist für die Volksbegehren »Rettet den Volksentscheid« und »Hamburg stärkt den Volksentscheid«. Etwa 63000 Hamburger müssen in dieser Zeit ihre Unterstützung für die Plebiszite auf einem Amt anzeigen, damit Volksbegehren und Volksentscheide in ihrer bisherigen Form auch weiterhin in Hamburg möglich bleiben. Gleichzeitig soll erreicht werden, daß Volksentscheide künftig auch einen maßgeblichen Einfluß auf die Gesetzgebung in der Bürgerschaft haben.

Dies durchzusetzen wird kein Spaziergang, denn der CDU-Senat macht es den Initiatoren von »Mehr Demokratie« denkbar schwer. Während bislang Unterschriften für ein Volksbegehren auch auf der Straße gesammelt werden konnten, müssen nun die Unterstützereintragungen während der offiziellen Öffnungszeiten von 10 bis 16 Uhr auf einem Orts- oder Einwohnermeldeamt erfolgen. »Mehr Demokratie« sammelt deshalb nun schon seit Tagen Anträge für eine Briefwahl, die es den Bürgern ermöglichen sollen, ihr Votum auch außerhalb der Öffnungszeiten abzugeben.

In der Sache geht es um viel, denn mit dem Volksbegehren »Rettet den Volksentscheid« wollen die Initiatoren eine Verfassungsänderung durchsetzen, die dann in einem Volksentscheid von einer Zweidrittelmehrheit aller Hamburger Wahlbürger bestätigt werden müßte. Der Bürgerschaft soll so die Möglichkeit genommen werden, die Ergebnisse von Volksentscheiden im Parlament zu übergehen. Genau dies war in der Vergangenheit, beispielsweise nach dem Volksentscheid gegen die Privatisierung des Landesbetriebs Krankenhäuser, mehrfach passiert. Auch ein mit großer Mehrheit befürwortetes neues Wahlrecht, das die Rechte der Bürger stärken sollte, hatte die CDU-Mehrheit in der Bürgerschaft gekippt.

Wegen der Hürden für die schon laufenden Volksbegehren ist es ungewiß, ob die nötige Anzahl an Unterschriften zusammenkommt. »Nie waren die Bedingungen schlechter«, sagt Gregor Hackmack von »Mehr Demokratie«. Andererseits wird die Initiative von einem breiten Bündnis unterstützt. Beiden Volksbegehren haben sich nicht nur alle Oppositionsparteien, sondern auch die Gewerkschaften und etliche Vereine angeschlossen. Mit dem Volksbegehren »Stärkt den Volksentscheid« sollen die Bedingungen für Volksbegehren und Volksentscheide gelockert werden. Hätte es Erfolg, könnten die Bürger beispielsweise die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen künftig mit Unterschriftensammlungen verhindern.

Um noch mehr Hamburger auf die Möglichkeit einer Briefwahl aufmerksam zu machen, hat der Verein »Mehr Demokratie« dieser Tage begonnen, Antragsformulare an alle Hamburger Haushalte zu verschicken. Der Senat hatte sich geweigert, den Bürgern die entsprechende Information zukommen zu lassen. Der Postversand kostet die Initiative mehr als 40000 Euro. Sie bittet deshalb um Spenden zur Finanzierung der Aktion.

www.rettet-den-volksentscheid.de

Verwendung: http://www.jungewelt.de/2007/02-13/043.php



Linkspartei-Politiker trifft von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge

Bei einem Weihnachtstreffen für die in Hamburg von einer Abschiebung bedrohten afghanischen Flüchtlingsfamilien hat der Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Norman Paech einen sicheren Aufenthaltsstatus für Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland gefordert.

Scharf kritisierte Norman Paech den Hamburger Innensenator Udo Nagel (parteilos), der nun auch die Abschiebung von Familien mit Kindern und die von alleinstehenden Frauen nach Afghanistan betreibt. Dies sei mit der »Menschenrechts- und Sicherheitslage in Afghanistan nicht vereinbar«, sagte Paech, der sich nun für einen sofortigen Abschiebestopp einsetzen will, bis sich die Situation in Afghanistan verbessert habe.

Rund siebzig afghanische Gäste, darunter 20 Kinder, hatte Paech zuvor bei seinem Weihnachtstreffen begrüßt. Eingeladen hatte der Politiker vor allem jene Flüchtlingsfamilien, die nun ganz oben auf der Abschiebeliste des Hamburger Innensenators stehen. Nagel begründet die Abschiebungspläne auch mit dem neuen Bleiberecht, nach dem ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erst dann möglich wird, wenn ein Flüchtling mindestens sechs Jahre in Deutschland gelebt hat. Doch für viele der afghanischen Familien trifft dies nicht zu. Einzelfallprüfungen hält Senator Nagel auch nicht für notwendig. Hamburg ist bisher das einzige Bundesland, aus dem nun auch Kinder nach Afghanistan abgeschoben werden. 150 afghanische Familien sollen allein im laufenden Winter Deutschland verlassen.

Tränen über die Bilder aus der Heimat

Zu den von Abschiebung bedrohten Afghanen gehört die Familie von Goalei Amiri, die sei fünfeinhalb Jahre in Deutschland lebt. Amiri hat sieben Kinder, um deren Leben sie nun fürchtet. Von ihrer Angst berichtet auch Siagol Seddiki, die mit ihrer Familie Afghanistan verließ, weil sie nicht länger unter den Taliban leben wollte. »Ich liebe mein Land«, sagt Seddiki, doch »wenn ich Bilder im Fernsehen sehe, kommen mir die Tränen«.

Dort sieht sie die Flüchtlinge, die nun schon aus dem Iran oder aus Pakistan zurückgekehrt sind. Viele von ihnen haben nicht mal ein Zelt über den Kopf, geschweige denn Winterschuhe für die Kinder. »Wir alle wissen, dass besonders die Frauen, aber auch die Kinder, in Afghanistan überhaupt keine Rechte haben«, sagt die WASG-Vorstandsfrau Zaman Masudi, die selbst viele der afghanischen Flüchtlinge betreut.

Aufruf zu Aktionen, Schüler sammeln schon

Gegenüber ND forderte Masudi nun, dass zumindest Familien mit Kindern und alleinstehende Frauen von den Abschiebungen ausgenommen werden. Norman Paech will dafür alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen und auch zu Widerstandsaktionen aufrufen. Die verantwortlichen Politiker, so Paech, müssten direkt mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert werden.

In diesem Sinne aktiv geworden, sind schon jetzt Schüler mehrerer Hamburger Schulen. Sie sammeln Unterschriften gegen die Abschiebung ihrer Mitschüler und organisieren Demonstrationen.

Quelle: Printausgabe Neues Deutschland, 21. Dezember 2006, Seite 6



Hamburger Bundestagsabgeordneter der Linksfraktion lud von Abschiebung bedrohte Afghanen ein

»Wir lieben unser Land, doch noch mehr lieben wir unsere Kinder«, sagt die Afghanin Siagol Seddiki. Sie fürchtet, mit ihren Kinder demnächst in einem Flieger nach Kabul zu sitzen. Sie weiß, wie es dort den Rückkehrern geht, die häufig nicht mal ein Dach über dem Kopf haben. »Auch unsere Kinder haben ein Recht auf Bildung«, sagt Goalei Amiri, die seit fünfeinhalb Jahren in Deutschland lebt und selbst sieben Kinder hat. Sie sorgt sich um die Zukunft ihrer ältesten Tochter, die gerade 16 geworden ist und kurz vor dem Schulabschluß steht. Wie es solchen Mädchen in Afghanistan geht, sei bekannt, meint das Ehepaar Sharifzada, das selbst eine 14jährige Tochter hat, die mit einem Notendurchschnitt von 1,5 nach Auskunft ihrer Lehrer locker das Abitur machen könnte. Ginge es nach Hamburgs Innensenator Udo Nagel (parteilos), säße die ganze Familie längst in Afghanistan. Nur eine Eingabe im Härtefallausschuß der Bürgerschaft hat das bislang verhindert.

Rund 70 afghanische Gäste, unter ihnen 20 Kinder, haben am Dienstag abend in Hamburg an einem Weihnachtstreffen mit dem Bundestagsabgeordneten der Linksfraktion Norman Paech teilgenommen. Eingeladen hatte Paech dazu vor allem jene Flüchtlingsfamilien, die in Hamburg ganz unmittelbar vor der Gefahr einer Abschiebung stehen. Denn als bislang einziges Bundesland will die Hansestadt nun auch Familien, die Kinder haben und alleinstehende Frauen nach Afghanistan abschieben. Zynischerweise begründet Innensenator Nagel dies mit dem Bleiberecht, auf das sich die Innenpolitiker des Bundes und der Länder erst kürzlich verständigt hatten. Ein Antrag für einen dauerhaften Aufenthaltsstatus dürfen demnach nämlich nur Flüchtlinge stellen, die nun schon mindestens sechs Jahre in Deutschland leben und zudem ein ausreichendes Einkommen zur Ernährung ihrer Familien haben. Doch viele der afghanischen Familien sind eben erst fünf oder fünfeinhalb Jahre in Hamburg. Für sie zieht Nagel nun den Umkehrschluß, daß eine Abschiebung rechtlich geboten sei. Offenbar hält Nagel Afghanistan für ein »sicheres Herkunftsland«, weshalb jetzt auch keine Einzelfallprüfungen mehr vorgesehen sind. Paech sieht darin einen Bruch der Menschenrechte und der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Er forderte am Dienstag einen sofortigen Abschiebestopp für alle afghanischen Flüchtlinge, weil sich ihre Heimat immer noch in einem Kriegszustand befinde und sich wegen der sozialen Not für die Rückkehrer keine Lebensperspektive eröffne.

http://www.jungewelt.de/2006/12-21/044.php



Fünf Jahre nach Tod eines Nigerianers durch Brechmitteleinsatz: Anzeigen gegen Politiker, Juristen, Polizisten und Ärzte wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung

Hamburgs Innensenator Udo Nagel (parteilos) und Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) als Beschuldigte vor dem Bundesgerichtshof? Fünf Jahre nach dem Tod des 19jährigen Nigerianers Achidi John, der am 9. Dezember 2001 an den Folgen eines Brechmitteleinsatzes in Hamburg verstarb, haben am Donnerstag 26 Rechtsanwälte, Pastoren und Ärzte bei Generalbundesanwältin Monika Harms Strafanzeige gegen »alle Personen erstattet, die direkt oder indirekt« an der Durchführung der seit 2001 etwa 500 Brechmitteleinsätze allein in Hamburg beteiligt waren. Neben Nagel und Lüdemann beträfe dies auch die sozialdemokratischen Exsenatoren Olaf Scholz und Lore Maria Peschel-Gutzeit, die die Methode 2001 eingeführt hatten, sowie ihre rechtspopulistischen Nachfolger Ronald Schill und Roger Kusch. Verantworten müßten sich, käme es zu einem Verfahren, aber auch Ärzte, Polizisten und Staatsanwälte. Die Anzeige gegen sie alle lautet auf Nötigung oder gefährliche Körperverletzung im Amt.

Daß der Einsatz von Brechmitteln nichts anderes als Folter ist und deshalb gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, hatte im Juli schon der Europäische Gerichtshof festgestellt. Das Urteil war auf Antrag eines Mannes ergangen, der 1993 in Nordrhein-Westfalen Opfer eines Brechmitteleinsatzes unter Gewaltanwendung geworden war. Wegen dieser »inhumanen und erniedrigenden« Methode, die das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtige, hatte der Gerichtshof in Strasbourg die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10000 Euro verurteilt. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß auf diese Weise erlangte Beweismittel, etwa in Form verschluckter Drogen, grundsätzlich einem gerichtlichen Verwertungsverbot unterliegen.

Ähnlich wie dem aus Sierra Leone stammenden Kläger erging es seit 1993 sehr vielen Menschen in mehreren Bundesländern. Auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten vor ihrer Festnahme Drogen verschluckt haben, wurden sie gezwungen, das gefährliche Brechmittel Ipecacuanha-Sirup schlucken. Wer sich widersetzte, dem wurde das Mittel mit Hilfe einer Sonde über die Nase in den Magen gepumpt, obwohl längst bekannt war, daß dies nicht nur zum Kreislaufzusammenbruch, sondern auch zu Organverletzungen führen kann.

So war es auch bei Achidi John, den gleich fünf Polizisten gefesselt hatten, bevor ihm dann eine Ärztin die etwa 830 Milliliter des mit Wasser verdünnten Sirups in den Magen pumpte. Wie er dabei zu Tode kam, wurde nie aufgeklärt. Begonnene Vorermittlungen der Hamburger Staatsanwaltschaft verliefen schon nach kurzer Zeit im Sande. Selbst, als das Strasbourger Urteil vorlag, wollten die Hamburger Politiker nicht von ihrer Folterpraxis lassen. »Wir sind und bleiben dafür«, erklärte beispielsweise der SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel.

Für Rechtsanwalt Martin Klinger, einen der Initiatoren der Strafanzeige, ist schon die Androhung dieser »Folterwerkzeuge« Grund genug, sämtliche Strafverfahren, die auf solcherart erzielten Beweisen basieren, neu aufzurollen. »Sie können nicht sagen, sie hätten nicht gewußt, daß das Unrecht ist«, betonte der Hamburger Arzt Bernd Kalvelage. Gegenüber jW wies er darauf hin, daß sich viele seiner Kollegen der Brechmittelpraxis verweigern. Die Bundesärztekammer habe schon 1996 auf die Gefährlichkeit und das Unrecht dieser Behandlung verwiesen. Kalvelage regte deshalb Berufsordnungsverfahren vor der Ärztekammer gegen Kollegen an, die das Mittel in der Zeit danach verabreicht haben.

http://www.jungewelt.de/2006/12-09/094.php



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Zwei Wochen lang boykottierten Insassen des niedersächsischen Abschiebelagers Bramsche das Kantinenessen, um gegen menschenunwürdige Verhältnisse zu protestieren

Wie am Dienstag abend bekannt wurde, ist der Flüchtlingsstreik im niedersächsischen Abschiebelager Bramsche-Hesepe nach zweiwöchiger Dauer am Wochenende beendet worden. Wie berichtet, hatten etliche der rund 300 Insassen mit einem Boykott ihres Kantinenessens und durch verschiedene Blockadeaktionen zuvor mehrfach auf die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in dem rund 25 Kilometer vor Osnabrück gelegenen Lager aufmerksam gemacht. Sie forderte in die Gespräche zur Verbesserung der Lebensbedingungen einbezogen zu werden, die inzwischen im Zentralen Aufnahmelager der Ausländerbehörde ( ZAAB ) in Blankenburg bei Oldenburg geführt werden, nachdem dort die Flüchtlinge fast vier Wochen gestreikt hatten. Eine berechtigte Forderung, denn Bramsche ist eine Außenstelle des ZAAB, in der vor allem Flüchtlinge mit abgelehnten Asylanträgen kaserniert werden. In diesen sogenannten »Ausreisezentren« ist aber nicht nur das Essen und die medizinische Versorgung schlecht, sondern die dort Untergebrachten werden zudem durch allerlei Alltagsschikanen immer dazu angehalten, ihre »Ausreise« zu beschleunigen.

»Wir sind uns sicher, daß die Botschaft unseres Streiks verstanden wurde«, kommentierte am Mittwoch ein Sprecher der Flüchtlinge das vorläufige Ende des Protestes in Bramsche. Die politischen Aufklärungsaktionen sollen aber fortgesetzt werden. Schon am Freitag mit einer Demonstration quer durch Osnabrück, bei der die Bevölkerung auch mit Flugblättern und Reden über das Lagerleben informiert werden soll.

Ähnlich wie zuvor in Blankenburg waren auch die Streikaktionen in Bramsche von zahlreichen Repressionsmaßnahmen begleitet. So etwa, als Mitte letzter Woche ein Flüchtling ein Gespräch mit dem Lagerleiter Conrad Bramm verlangte und er daraufhin unter Einsatz von Pfefferspray gleich festgenommen wurde. Dazu kommen etliche Ermittlungsverfahren gegen einzelne Flüchtlinge, weil sie andere angeblich genötigt hätten, an den Protesten teilzunehmen. Die Wirkung solcher Maßnahmen konnte in Bramsche aber nur bedingt durch Unterstützung von außen wieder ausgeglichen werden, denn das Lager ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen und liegt weit außerhalb und abgelegen von Osnabrück und Bramsche. Behindert waren die Streikaktionen aber auch deshalb, weil es an geeigneten Kommunikationsräumen fehlte, weshalb Peer Hilkmann vom Unterstützernetzwerk »NoLager« gegenüber junge Welt nun auch ankündigte, demnächst in unmittelbarer Lagernähe ein Unterstützungscafé für die Flüchtlinge einzurichten.

Das Netzwerk fordert unterdessen, daß sich nun auch die Behörden in Bramsche am Rat der Stadt Oldenburg orientieren. Dieser hatte erst kürzlich in einer Resolution gefordert, die Lagersituation »ernsthaft und intensiv« zu prüfen, um dann gemeinsam mit den Flüchtlingen Lösungswege zu erarbeiten. Entsprechende Gespräche haben in Blankenburg bereits begonnen, während eine Antwort von Innenminister Uwe Schünemann (CDU) auf die ebenfalls erhobene Forderung, landesweit eine unabhängige Untersuchungskommission zur Lagersituation einzurichten, allerdings noch aussteht.

http://www.jungewelt.de/2006/12-07/032.php



Nach vier Wochen Streik im Aufnahmelager Blankenburg signalisiert Lagerleitung Gesprächsbereitschaft

Der Flüchtlingsstreik im Zentralen Aufnahmelager der Ausländerbehörde ( ZAAB ) in Blankenburg bei Oldenburg ist beendet. Am Dienstag abend gaben die Organisatoren bekannt, daß die Vollversammlung aller Streikenden am Montag beschlossen hat, den Streik auszusetzen.

Vier Wochen lang haben rund 200 Flüchtlinge im Aufnahmelager gestreikt. Sie boykottierten das schlechte Kantinenessen und die lagerinternen Ein-Euro-Jobs. Sie forderten die Umwandlung von Sach- in Geldleistungen, wie sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz möglich ist. Zudem verlangten sie eine bessere ärztliche Versorgung und schließlich menschliche Alternativen zum tristen Lagerleben.

Zuvor hatte die Lagerleitung erstmals zögerlich Gesprächsbereitschaft signalisiert, so daß die Streikenden nun erklären konnten, eine Frist von vier Wochen zu setzen, innerhalb derer sich die Lebensbedingungen im Lager spürbar verbessern müssen. Am Mittwoch abend beschäftigte sich auch die Ratsversammlung der Stadt Oldenburg mit der Situation der Flüchtlinge. Die Fraktion der Linken hatte einen Antrag eingereicht, in dem die Umwandlung von Sach- in Geldleistungen gefordert wird. Gesprächsbereitschaft dazu signalisierten auch Abgeordnete aus den Fraktionen von SPD und Grünen. Gemeinsam hätten die drei Parteien eine Mehrheit im Rat. Der Landtagsabgeordnete der Grünen Ralf Briese hatte angeregt, eine unabhängige Kommission zur Überwachung der Zustände in den Flüchtlingslagern auf Landesebene zu bilden. Das Antirassistische Plenum Oldenburg schlug zudem vor, daß in dieser auch Vertreter der Kirchen, der Gewerkschaften und von Flüchtlingsorganisationen vertreten sind. Das gibt den Flüchtlingen nun die Zeit, erst mal abzuwarten, ob sich an den Lagerzuständen tatsächlich spürbar etwas ändert. Geschieht dies nicht, sind weitere Aktionen angekündigt.

Zu einer ehrlichen Bilanz dieses Streiks gehört allerdings auch zu analysieren, warum dieser Streik seit Beginn der dritten Streikwoche immer schwieriger wurde. Ganze Polizeieinheiten hatten das Lager besetzt, vermeintliche Streikführer wurden in weit entfernte Camps zwangsverlegt. Druck entfalteten ebenso die immer häufiger stattfindenden Botschaftsvorführungen für schwarzafrikanische Flüchtlinge, die diesen deutlich machen sollten: Wer nicht spurt, wird notfalls sehr schnell abgeschoben. Anderen Flüchtlingen wurde auch noch der Rest ihres mageren Taschengeldes von monatlich 38 Euro entzogen. Unterstützer wurden nachts in ihren Wohnungen von der Polizei aufgesucht, während Streikbrecher gleichzeitig mit großzügigen Besuchs- oder Urlaubsregelungen sowie einem zeitweilig besseren Kantinenessen gelockt wurden. Es war eben »Zuckerbrot und Peitsche«, was sich Lagerleiter Christian Lüttgau mit Unterstützung des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) zur Streiksabotage ausgedacht hatte.

Theoretisch haben auch Flüchtlinge ein Recht auf Meinungs-, Informa­tions- und Koalitionsfreiheit – so sagt es zumindest das Grundgesetz. Doch tatsächlich leben diese Menschen in einer ständigen Angst, vielleicht schon morgen abgeschoben zu werden. Da entfalten zusätzliche Repressionsmaßnahmen, selbst dann, wenn sie illegal sind, eine besondere Wirkung. Umso erstaunlicher ist es, daß die Flüchtlinge ihren Streik vier Wochen lang durchgehalten haben und darüber hinaus mit einer Vielzahl von Aktionen eine breite Öffentlichkeit erreichten. Nun haben die Flüchtlinge alle Parteien, Verbände und Bürger in ganz Niedersachsen dazu aufgefordert, eine Position zum täglichen Flüchtlingselend in Deutschland zu beziehen. Auch dafür haben sie gestreikt.

http://www.jungewelt.de/2006/11-02/028.php



CDU rutscht in der Wählergunst ab / Rechtspopulist sieht neue Chancen gekommen

Nach einer gerade veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap ist die Hamburger CDU in der Gunst ihrer Wähler dramatisch abgestürzt.

Wäre am Sonntag Bürgerschaftswahl, käme die Partei von Bürgermeister Ole von Beust auf noch 35 Prozent, während die SPD mit 36 Prozent erstmals wieder an ihr vorbeiziehen würde. Für die Grünen gäbe es 14, für die FDP sechs und für die Linke aus PDS und WASG vier Prozent. Eine der Ursachen für diesen dramatischen Vertrauensverlust – bei der Bürgerschaftswahl 2004 erzielte die Regierungspartei noch 47,2 Prozent – ist dabei offenbar ihr Umgang mit den Volksentscheiden. So hatte die CDU erst kürzlich ein per Volksabstimmung eingeführtes neues Wahlrecht, mit dem die Bürger mehr Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten haben sollten, einfach wieder gekippt. Missachtet wurden Volksentscheide gegen die Privatisierung des Landesbetriebs Krankenhäuser und der staatlichen Berufsschulen. 70 Prozent der Wahlbürger finden das laut Umfrage »nicht in Ordnung«.

Doch nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Michael Greven ist der Erdrutsch auch ein Zeichen für die »Normalisierung im Politikbetrieb«. Nun werde die Koalitionsfrage wieder wichtiger. Selbst CDU-Strategen hatten innerparteilich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es der Union im traditionell eher sozialdemokratisch geprägten Hamburg sehr schwer fallen werde, das Ergebnis von 2004 noch einmal zu wiederholen.

Damals gelang es dem Bürgermeister, die ehemaligen Schill-Wähler zu holen, nachdem der Rechtspopulist in sehr unappetitlicher Form von Beust als einen »Schwulen« geoutet hatte und daraufhin aus dem Senat herausflog. Ist es deshalb ein Zufall, dass nun die Springerpresse, die in der Hansestadt 80 Prozent des Zeitungsmarktes beherrscht, schon seit Wochen mit dem ehemaligen Justizsenator Roger Kusch, er hat inzwischen eine eigene Partei unter dem Namen »Heimat Hamburg« gegründet, eine neue rechtspopulistische Galionsfigur regelrecht aufbaut?

Gleich dutzendweise veröffentlichten die Springerblätter in den letzten Wochen jedenfalls Stellungnahmen, in denen sich dieser über angeblich »steigende Jugendkriminalität«, das »Drogenelend« oder auch »illegale Ausländerkinder« auslässt. Auch als neuer Koalitionspartner für die CDU hat sich dabei Kusch schon selbst ins Spiel gebracht.

Unterdessen bewertete Linkspartei-Landesgeschäftsführer Martin Wittmaack das eigene Umfrageergebnis zurückhaltend positiv. Die Linke habe eine gute Chance, bei den Bürgerschaftswahlen 2008 ins Parlament einzuziehen, wenn es ihr gelinge, eigene Alternativen noch besser auszuarbeiten. Erneut soll deshalb Anfang November ein stadtpolitischer Kongress stattfinden.

Quelle: Printausgabe Neues Deutschland 01.11.06, Seite 4



Solidarität mit Protesten im Zentralen Aufnahmelager Blankenburg wächst. Behörden setzen auf Repression

Der Streik der Flüchtlinge im Zentralen Aufnahmelager der Ausländerbehörde in Blankenburg ( ZAAB ) bei Oldenburg geht nun schon in die dritte Woche. Am heutigen Mittwoch setzt sich der Ausstand, der sich am schlechten Lageressen entzündet hatte, sogar mit einer Demonstration quer durch Hannover fort. Zur Protestaktion, die heute um 13 Uhr vor dem Hauptbahnhof beginnt und zu der auch Flüchtlinge aus Bramsche und Braunschweig erwartet werden, haben auch der Flüchtlingsrat und verschiedene Solidaritätsgruppen aus ganz Niedersachsen aufgerufen. Die Streikforderungen nach einer Umwandlung von Sach- in Geldleistungen und der Unterbringung der Flüchtlinge in eigenen Wohnungen richtet sich nun auch direkt gegen die CDU/FDP-Landesregierung. Doch diese setzt auf Repression. Schon seit Tagen ist das Lager in Blankenburg durch Polizeieinheiten regelrecht besetzt. Angeblich sollen so Flüchtlinge vor den Flüchtlingen »geschützt« werden, denn Lagerleiter Christian Lüttgau hatte zuvor behauptet, daß die Streikführer im Lager selbst ein »Klima der Angst« erzeugen würden und der Streik zudem von »Chaoten« ferngesteuert sei. Vermeintliche Rädelsführer wurden deshalb in der vergangenen Woche schon in andere, weit entfernte Lager zwangsverlegt.

Das aber sei völlig unangemessen, betonten Vertreter von Flüchtlings- und Solidaritätsgruppen erst am Freitag letzter Woche, als die Flüchtlinge zum »Tag der offenen Tür« eingeladen hatten, damit sich die Oldenburger ein eigenes Bild vom Lagerleben machen können. Doch Lüttgau hatte die Lagertür einfach absperren lassen, weshalb der »Tag der offenen Tür« vor der Tür direkt am Metallzaun stattfinden mußte. Ronald Sperling vom »Antirassistischen Plenum in Oldenburg« betonte dort, daß die Streikenden »in keiner Weise gegen geltendes Recht« verstoßen haben, weshalb er und der Flüchtlingsrat ein Ende der Repressionen und eine politische Lösung des Konflikts forderten. Die grundgesetzlich geschützte Meinungs- und Vereinigungsfreiheit gelte auch für Flüchtlinge, hieß es.

Währenddessen wächst die Solidaritätsbewegung mit den mutigen Flüchtlingen. Für diesen Freitag hat sich beispielsweise die Dancehall-Reggae-Band »Yalla Yalla Movement« zum Soli-Konzert angemeldet, und auch der Bundestagsabgeordnete und Landeschef der Linkspartei, Diether Dehm, forderte zur Solidarität mit den Flüchtlingen auf, deren Forderungen »vollauf berechtigt« wären.

* Weitere Infos: www.nolager.de

http://www.jungewelt.de/2006/10-25/029.php



Protest gegen Unterbringung in Blankenburg

Der Streik der rund 250 Bewohner in dem sieben Kilometer vor Oldenburg gelegenem Flüchtlingslager Blankenburg dauert nun schon 18 Tage. Ausgelöst durch schlechtes Essen werden seitdem die Kantine, aber auch die lagerinternen Ein-Euro-Jobs boykottiert.

Die Bewohner wollen mehr Geld, damit sich diese selbst verpflegen können. Angemahnt werden auch Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung sowie eine Unterbringung aller Flüchtlinge in gemeindenahen Wohnungen, was auf die Auflösung des Lagers zielt.

Dem aber steht Lagerchef Christian Lüttgau kompromisslos entgegen. Lüttgau hat in diesen Tagen gleich mehrere der vermeintlichen Streikführer in weit entfernte Flüchtlingslager strafverlegt. Doch damit konnte der Streik bisher nicht gebrochen werden, wie sich auch an den zahlreichen Demonstrationen quer durch Oldenburg zeigt. Gestern luden die Flüchtlinge die Bevölkerung zu einem »Tag der offenen Tür« – doch informiert werden musste dann doch draußen vor verschlossenen Toren.

Seit Tagen besetzen ganze Polizeieinheiten das Lager, angeblich um Flüchtlinge vor Flüchtlingen »zu schützen«. Eine bedrohliche Kulisse, die auf die schwarzafrikanischen Flüchtlinge besondere Wirkung hat. Denn diese werden schon seit Tagen für Vorführungen bei den Botschaften ihres tatsächlichen oder mutmaßlichen Heimatlandes gezielt herausgesucht.

Eingeschüchtert werden aber auch die anderen Flüchtlinge, denen Lüttgau das monatliche Taschengeld von rund 38 Euro teilweise entzog. Dies sei völlig unangemessen, sagten Vertreter von Flüchtlings- und Solidaritätsgruppen aus ganz Niedersachsen. Die Streikenden hätten »in keiner Weise gegen geltendes Recht« verstoßen, betonte Ronald Sperling vom »Antirassistischen Plenum in Oldenburg«, das auch Solidaritätsaktionen organisierte. Die »Meinungs- und Vereinigungsfreiheit« gelte auch für Flüchtlinge, unterstrich Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat.

Die Streikforderungen entsprechen ohnehin dem, was Menschenrechtsorganisationen schon seit Jahren fordern. So sei etwa die Umwandlung von Sach- in Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht nur möglich, sondern in etlichen Bundesländern auch schon Praxis. Unterstützung kommt dafür von Diether Dehm, Landeschef der Linkspartei, der auch will, dass die Flüchtlinge künftig eine Arbeitserlaubnis erhalten, damit sie ihren Lebensunterhalt in »regulären Arbeitsplätzen« selbst verdienen können.

Quelle: Printausgabe Neues Deutschland, 21. Oktober 2006, Seite 5



Bremen: Chance, schon vor der nächsten Abstimmung zur Bürgerschaft das Wahlrecht zu demokratisieren

Zum ersten Mal überspringt ein Volksbegehren im Bundesland Bremen die Hürde, von zehn Prozent der Wahlberechtigten per Unterschrift unterstützt zu werden. Über 71000 Bremer und Bremerhavener hätten für das Volksbegehren »Mehr Demokratie beim Wählen« unterzeichnet, wie Paul Tiefenbach, Vertrauensperson des Volksbegehrens, bekanntgab. Notwendig wären rund 50000 Unterschriften gewesen. Bisher waren alle Volksbegehren in Bremen an dieser hohen Hürde gescheitert, weshalb Tiefenbach nun auch von einem »phantastischen Ergebnis« sprach.

Nun muß der Gesetzentwurf der Volksinitiative der Bürgerschaft zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Das Papier sieht mehr Mitbestimmungsrechte der Bürger bei der Auswahl der Kandidaten zur Bürgerschaft, aber auch die Streichung der Fünf-Prozent-Klausel für die Stadtversammlung in Bremerhaven vor.

Sollte in der Bürgerschaft die Koalition aus SPD und CDU ihre Zustimmung verweigern, kommt es zu einem Volksentscheid. Die Fristen im weiteren Verfahren sind dabei so geregelt, daß der Volksentscheid gleichzeitig mit der nächsten Bürgerschaftswahl im Mai 2007 stattfinden könnte.

Doch angesichts der großen Zustimmung zu dem alternativen Gesetzentwurf rechnet Tiefenbach nun auch mit einer Mehrheit im Parlament, so daß gegebenenfalls schon bei den nächsten Wahlen nach dem neuen Recht verfahren werden könne. Tiefenbach betonte zudem, daß dieser Erfolg ohne ein breites Bündnis aus Organisationen, Vereinen, Gewerkschaften und Oppositionsparteien nicht möglich gewesen wäre.

http://www.jungewelt.de/2006/10-19/046.php