05. April 2008

Christiane SchneiderAuch die tibetische Opposition muß sich Fragen nach Menschenrechtsverletzungen gefallen lassen. Ein Gespräch mit Christiane Schneider

Christiane Schneider ist Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft

Der Forderung der Grünen, sich mit Tibet und dem Dalai Lama solidarisch zu erklären, haben Sie am Mittwoch in der Bürgerschaft widersprochen. In den Medien werden Sie dafür nun als jemand gegeißelt, der in »kalter kommunistischer Kadersprache« Menschenrechtsverletzungen billige. Was haben Sie tatsächlich gesagt?

Daß ich Schwarz-Weiß-Zeichnungen der schrecklichen Ereignisse und die darauf beruhende Voraussetzungslosigkeit, mit der die Grünen-Fraktion »Solidarität mit Tibet« forderte, ablehne. Die Forderung, Menschenrechte einzuhalten, richtet sich selbstverständlich in erster Linie an den Staat. Doch im weiteren gilt das auch für die Opposition. Fakt ist, daß es Augenzeugenberichte und Nachrichten gibt, wonach es bei den Protesten zu pogromartigen Ausschreitungen gegen chinesische Bewohner Tibets kam. Da wurden Geschäfte geplündert, Menschen zusammengeschlagen, nur weil sie Han-Chinesen sind, Häuser – mitsamt ihrer Bewohner – in Brand gesetzt. Deshalb muß sich auch die tibetische Oppositionsbewegung die Frage gefallen lassen, wie sie denn Menschenrechtsverletzungen künftig ausschließen will.

In den Medien wird behauptet, Sie würden den Dalai Lama auf eine Stufe mit dem iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeini stellen.

Das entspricht nicht den Tatsachen. Ich habe lediglich ausgeführt, daß es mit Religionsführern, die sich als Repräsentanten gesellschaftlicher Opposition in politische Prozesse einmischen, weltweit keine guten Erfahrungen gibt. Nur in diesem Zusammenhang habe ich den Namen von Khomeini erwähnt. Es ging mir um dieses grundsätzliche Problem, nicht um einen Vergleich oder die Gleichsetzung der Personen.

Warum lehnen Sie die Vermischung von Religion und Politik so grundsätzlich ab?

Jede Religion erfordert ein Bekenntnis. Ein Staat, der auf der Grundlage von Bekenntnissen aufgebaut ist, versperrt sich demokratischen Willensbildungsprozessen, weil keine Meinungsfreiheit herrscht, sondern ein Bekenntnis gefordert wird. Daß sich Politik vom Zwang zum Bekenntnis lösen muß, ist ja historisch wie auch analytisch eine Grundlage der Menschenrechte. Denn die beinhalten die Freiheit zum Bekenntnis ebenso wie die Freiheit vom Bekenntnis. Die Haltung des Dalai Lama hierzu ist völllig unklar. Auch die sozialistische Bewegung hat damit schlechte Erfahrungen gemacht. [Daraus muss in China die Konsequenz gezogen werden muss, dass auf der Grundlage von Meinungsfreiheit ein toleranter Meinungsaustausch stattfinden muss.]

Gegängelt fühlen sich viele Tibeter heute aber nicht vom Dalai Lama, sondern von der chinesischen Regierung.

Daß es im Tibet Unterdrückung, kulturelle Diskriminierung und eine Benachteiligung von Tibetern auf vielen Gebieten gibt, kann nicht bestritten werden. Ebensowenig wie die Tatsache, daß die Politik der Modernisierung nicht nur, aber eben auch in der autonomen Region Tibet zu erheblichen Verwerfungen, zu einem Anstieg der Armut, zum Ausschluß von Entwicklung für viele Menschen führt. Der Forderung, solche Menschenrechtsverletzungen einzustellen, schließen wir uns uneingeschränkt an.

Obwohl Tibet seit 1253 zu China gehört, wird in der deutschen Öffentlichkeit immer so getan, als sei früher ein unabhängiger Staat gewesen. Diese Unabhängigkeit sei nun wieder herzustellen. Wie sehen Sie das?

Die Volksrepublik China hat sich aus kolonialer Abhängigkeit durch einen langen Krieg befreien müssen. Die nationale Unabhängigkeit und die damit verbundene staatliche Einheit gehören zum Grundkonsens der Volksrepublik. Dessen Erschütterung hätte unabsehbare Konsequenzen. Nicht nur für China, sondern für die gesamte Region. Es ginge nicht ohne Gewalt und wäre ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.

Bis zum Abtritt des Dalai Lama waren fast 90 Prozent aller Tibeter Leibeigene oder Sklaven. Angenommen, der tibetische Buddhismus käme erneut an die Macht. Was hieße das für Tibet?

Das vermag ich nicht zu beurteilen. Gerechtfertigt ist aber die Forderung, daß auch die tibetischen Religionsführer und die Oppositionsbewegung die Frage beantworten müssen, welchen Kurs sie denn bei der Modernisierung, gegen Armut und für die Verwirklichung sozialer und politischer Menschenrechte steuern würden.

Anmerkungen:

In der Veröffentlichung für die Tageszeitung Junge Welt wurde der Satz von Christiane Schneider leider weggekürzt, dass daraus (aus der Vermischung von Politik und Bekenntnis] für ganz China der Schluss gezogen werden müsse, die gesamte Gesellschaft auf der Grundlage von Meinungsfreiheit und eines toleranter Meinungsaustausches zu entwickeln. Der Satz ist oben in einer Klammer []hinzugefügt.

Passend zum Thema lesen Sie bitte auch die Abschrift aus einem Buch von Alan Winnington zur Herrschaft des Dalai Lama im Tiber: Freiheit für Leibeigene.

Verwendung: Junge Welt vom 05. April 2008