Zur Geschichte des Dalai Lama: Das Adelsregime in Tibet sah bis Ende der 50er Jahre für Untergebene Rechtlosigkeit und grausame Strafen vor

Aber während die Einwohnerzahlen und die Produktion zurückgingen, stiegen die Ansprüche des Adels. Mit den ausländischen Einflüssen kam das Verlangen nach Industriewaren, ausländischen Weinen und den verschiedensten Luxusartikeln, aber sie brachten keine Veränderung im System der Produktion und der Verteilung, die allgemeinen Wohlstand vergrößert hätte. Aussaugen und immer noch mehr aussaugen – das war die einzige Antwort dieser in der Vergangenheit verankerten Gesellschaft.

Man kann sich keine Vorstellung vom tibetischen Feudalismus machen, wenn nicht wenigstens kurz auf die Methode des Auspeitschens eingegangen wird. Es ist oft darüber geschrieben worden, daß Menschen bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde, daß man ihnen die Augen ausdrückte, sie verstümmelte und die Sehnen durchschnitt. Das hat es in Tibet wirklich gegeben – als Strafmaßnahme und Mittel zur Befriedigung sadistischer Gelüste des Adels. Das Auspeitschen aber war bis zum Ausbruch des Aufstandes (1959 – d. Red.) ein anerkanntes Recht. Es erfolgte in den Kerkern der Gutsherren und der Klöster, und es gibt nur wenige Leibeigene, die nicht Spuren schwerer Prügelstrafen vorzeigen können. Geschlagen wurde mit der geflochtenen Reitpeitsche, die, wie mir der Lhasaer Mebon 1955 erzählte, einen Menschen schwer, ja tödlich verletzen konnte. In dem Bewußtsein, daß Zahlungsversäumnis unter Umständen 200 oder 300 Peitschenhiebe bedeutete, war ein Leibeigener zu allem bereit, wenn er nur seinen Verpflichtungen nachkommen konnte. Im übrigen wußte der Verwalter es bei ein bißchen Bestechung schon so einzurichten, daß die Hiebe gerade noch erträglich und nicht allzu folgenschwer waren – andernfalls konnte es leicht geschehen, daß die Peitsche statt des Gesäßes die Sehnen der Oberschenkel und der Kniekehlen traf und das Opfer verstümmelte. In jedem Gutshaus fanden sich schwere geflochtene Reitpeitschen und auch ein oder zwei menschliche Unterarme und andere grausige Reliquien. So sah ich in Loka die mumifizierte Leiche eines jungen Mädchens, das von seinem adligen Herrn vergewaltigt und ermordet und dann als Andenken aufbewahrt worden war. Auf einem der Güter Khemeneys entdeckte ich eine versilberte Schale, die aus einer menschlichen Schädeldecke hergestellt und noch zur Hälfte mit verschimmeltem Gerstenbrei und Buttertee gefüllt war. Die unglücklichen tibetischen Leibeigenen lebten in ständiger Furcht vor den »anderen«, wie sie die Adligen nannten.

Wußte man im Ausland schon nicht viel von der Lage der Leibeigenen in der tibetischen Landwirtschaft, so war noch weniger über jenes Fünftel des tibetischen Volkes bekannt, das in den hohen Weidegebieten oberhalb von Lhasa und Schigatse mit Hüten von Jaks und Schafen sein Dasein fristete. Vor noch nicht allzu vielen Jahrhunderten müssen diese Hirten freie Nomadenstämme gebildet haben. Von deren Stammesdemokratie haben sich jedenfalls noch Überreste erhalten. Alles spricht dafür, daß sich der Adel durch die verschiedensten Mittel nach und nach einen immer größeren Teil der Erzeugnisse und des Jungviehs aneignete und Eigentümer aller Weiderechte wurde. (…)

Die Kernfrage, die die chinesische Revolution im tibetischen Teil Chinas aufwarf, lautete: Freiheit des Besitzes von Leibeigenen oder Freiheit für die Leibeigenen? Das von Vertretern der Dalai-Lama-Gruppe in Peking unterzeichnete Abkommen sah vor, daß die Zentralregierung in dem ihr unterstehenden Gebiet das bestehende politische System nicht ändern würde; der Kaschag (die Exekutive des Dalai Lama – d. Red.) sollte jedoch freiwillig in geeigneter Weise Reformen durchführen. 1956 erklärte die chinesische Regierung, daß die Diskussion über die Reformen bis 1962 aufgeschoben werden könnte. Inzwischen wandte sie große Mittel auf, um Hilfsmaßnahmen durchzuführen und den Handel zu entwickeln; dabei muß es dem Adel wohl klargeworden sein, daß er immer geringere Aussicht hat, seine Leibeigenen für Aktionen zur Aufrechterhaltung des Status quo zu mobilisieren, wenn er den Dingen ihren Lauf ließe.

Auszug aus: Alan Winnington: Tibet. Ein Reisebericht. Berlin 1960, Seite 10–13

Quelle: Junge Welt vom 05. April 2008
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