Gespräch mit Moshe Zuckermann über innergesellschaftliche
Spannungen in Israel, Voraussetzungen für eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern und Antisemitismus in Europa
F: Im Dezember hat Israels Ministerpräsident Ariel Scharon ein gutes Jahr für sein Land angekündigt. Er bezog dies auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber auch auf den ökonomischen Bereich. Ist ein Ausweg aus der Wirtschaftskrise erkennbar?
Das ist miteinander verschwistert. Ein Grund für die ökonomische Krise ist die Intifada, ist der israelisch-palästinensische Krieg. Ohne politischen Aufschwung kann es keinen ökonomischen geben. Kommt es zu einer Neubelebung des Friedensprozesses, könnte es sein, daß die Wirtschaft wieder anspringt.
F: Das statistische Amt meldete, daß mehr als eine Million Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Ist die israelische Gesellschaft eine zerrissene Gesellschaft?
Die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft ist seit vielen Jahren durch mehrere Konfliktachsen gekennzeichnet: die jüdisch-arabische, sowohl in Israel als auch in den in den besetzten Gebieten; die Konfliktachse zwischen orientalischen und ashkenasischen Juden; der Konflikt zwischen religiösen und säkularen Juden. Hinzu kommen Klassendiskrepanzen, wobei sich aber ethnische und klassenmäßige Widersprüche überlappen. Ashkenasische Juden sind weitgehend die, die die oberen Schichten der Gesellschaft ausmachen. In den unteren Schichten dominieren orientalische Juden. Darunter sind die Araber. Noch tiefer stehen die 350 000 Gastarbeiter aus Thailand, den Philipinen, Rumänien oder Schwarzafrika. Seit 50 Jahren ist die israelische Gesellschaft mehrfach zersplittert. Ob das zum Tragen kommt, ist immer auch davon abhängig, ob es äußere Konflikte gibt. In Kriegszeiten oder bei größeren Auseinandersetzungen mit der arabischen oder palästinensischen Seite sind die inneren Konflikte weniger sichtbar. In der Tat leben etwa 20 Prozent der Bevölkerung unterhalb der vom Staat selbst gesetzten Armutsgrenze. Darunter viele Araber, Äthiopier, orthodoxe Juden. Vermutlich auch viele der über eine Million in den 90er Jahren zugewanderten russischen Einwanderer.
F: Im Nahost-Konflikt gibt es seit der Wahl von Mahmoud Abbas, besser bekannt als Abu Mazen, zum neuen palästinensischen Präsidenten wieder Hoffnung. Warum entschieden sich die Palästinenser eigentlich für den Wunschkandidaten von Scharon und Georg W. Bush?
Abu Mazen ist von den palästinensischen Wählern mit über 60 Prozent gewählt worden. Das hatte sicherlich mit dem Vakuum nach dem charismatischen Arafat, der aber ausgegrenzt und ausgeschaltet war, zu tun. Gewählt wurde Abu Mazen, weil er die palästinensische Gesellschaft repräsentiert. Wer hätte denn sonst gewählt werden sollen? Die Hamas und der Dschihad tragen die palästinensische Gesellschaft nicht. Das Abu Mazen auch der Wunschkandidat von Bush und Scharon gewesen ist, geht damit einher, daß sich auch die Palästinenser mehr ins Einvernehmen mit Israel und der Hegemonialmacht USA setzen möchten. Die große Frage ist, ob er, ohne dabei die Interessen der Palästinenser zu verraten, die anstehenden politischen Fragen auch mit Scharon aushandeln kann. Das muß man sehen.
F: Ist das nicht auch Ausdruck eines Erschöpfungszustandes in der palästinensischen Gesellschaft?
Das ist zweifelsfrei auch Ausdruck eines Erschöpfungszustandes. Den kann ich auch daran festmachen, was ich von palästinensischen Kollegen hörte, als ich sie fragte, wie sie den Plan von Scharon beurteilen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. Dieser Abzug soll ja auch bedeuten, daß man bei der Frage der Westbank freie Hand behält, den Besatzungszustand zu zementieren. Das wäre aber eine Garantie dafür, daß es da nur schlimm aussehen kann. Palästinensische Kollegen aus dem Gazastreifen sagten mir, daß sie derartig die Schnauze voll haben von israelischen Siedlern und Militär und dermaßen ausgepowert sind, daß sie einfach eine Zeit der Ruhe brauchen. Unabhängig davon, ob die Absichten von Scharon nun honorig sind oder nicht, wäre allein schon der Abzug aus dem Gazastreifen positiv. In der Tat ist auch die palästinensische Gesellschaft von Erschöpfung gekennzeichnet. Man redet immer vom Kampf. Aber dieser kostet gesellschaftliche und ökonomische Ressourcen.
F: Nach einer Meinungsumfrage vom Juni 2004 unterstützen 57 Prozent der Palästinenser eine Zwei- Staaten-Lösung, 24 Prozent sehen in der Gründung eines bi-nationalen Staates eine Lösung, nur zwölf Prozent wollen die Schaffung eines islamischen Staates.
Daß die Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung wollen, ist nichts Neues. Die große Frage ist eher, ob Israel daran interessiert ist und wenn ja, an welcher Zwei-Staaten-Lösung? Wenn die Zwei-Staaten-Lösung bedeutet: Israel zieht sich aus dem Gazastreifen und der Westbank zurück, dann würde der Frieden schon morgen von palästinensischer Seite zu haben sein. Auf der israelischen Seite bei weitem nicht. Für Scharon ist mitnichten abgemacht, daß er die Westbank oder deren größten Teil zurückgeben will.
F: Der Gush-Shalom-Aktivist Uri Avnery schrieb, daß die Chance für die Aussöhnung von Juden und Palästinensern nie größer gewesen sei, als jetzt. Teilen sie diese Einschätzung?
Ja. Dauerhafter Frieden ist aber nur zu erreichen, wenn die israelische Politik bereit ist, vier Bedingungen zu akzeptieren: Abzug aus den besetzten Gebieten, Räumung der Siedlungen, die Lösung der Jerusalem-Frage im Sinne einer Zwei-Staatenlösung, eine zumindest prinzipielle, also symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser. Bei letzterem geht es vor allem um eine symbolische Anerkennung dieses Rückkehrrechts. Darunter wird es sich von den Palästinensern niemand leisten können, einen Frieden mit Israel zu schließen. Ob dies mit Scharon ausgehandelt werden kann, bleibt für mich fraglich. Aber ich lasse mich gern überraschen.
F: Kann die Scharon-Regierung die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen innenpolitisch überhaupt durchhalten?
Der Gazastreifen ist ein Klacks. Das kann durchgehalten werden, wenn man es will. Ich gehe davon aus, daß auch Scharon dies will. Die große Frage ist nicht der Gazastreifen, sondern die Westbank. Das ist der neuralgische Punkt. Im Gazastreifen gibt es 6 000 bis 7 000 jüdische Siedler. In der Westbank sind es 220 000. Wenn es um die Räumung dieser Siedlungen gehen würde, ginge es ans Eingemachte. Da gibt es niemanden in Israel, der das so ohne weiteres durchführen kann. Ich vermute sogar, daß das zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen führen könnte.
F: Aber dann ist doch Gaza eher ein Alibi, um gleichzeitig die Siedlungspolitik in der Westbank nicht nur beizubehalten, sondern sogar noch zu verstärken?
Wenn »Peace Now« jetzt zum Beispiel sagt, daß mit dem Gazastreifen ein Anfang gemacht ist, dann will ich dem nicht widersprechen. Was mit der Westbank wird, müssen wir abwarten. Das ist im Moment nicht aktuell. Im Gegenteil: Es passiert genau das, was Sie in ihrer Frage angezeigt haben.
Prinzipiell ist die Frage eine andere: Will man sich auf einen Friedensprozeß wirklich einlassen? Solche politischen Prozesse halte ich nicht von vornherein für abgeschlossen. Da gibt es viel Dynamik. Ich glaube, daß Israel vor einer historischen Weggabelung steht, und deshalb hat der unilaterale Rückzug aus dem Gazastreifen auch politische Bedeutung. Der Weg zum Frieden führt über die vier Bedingungen, die ich genannt hatte. Das schließt dann natürlich irgendwann das Problem der Westbank ein. Schon jetzt bei der Diskussion um den Gazastreifen gab es in Israel heftige Proteste von rechts außen. Auch das zeigt, was hier in Bewegung kommen könnte. Es ist ein schwieriger Weg. Stellen Sie sich vor: Israel beschließt einen Rückzug aus der Westbank. Für national-religiöse Juden ist das eine nahezu endzeitliche Forderung, bei der sie sagen könnten: »Nur über unsere Leiche«. Damit könnte die Frage eines Bürgerkriegs aufgeworfen sein. Dies wird auch bei Umfragen unter den Siedlern deutlich. Ein Teil würde sich auch mit Gewalt gegen einen Abzug wehren. Tausende Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere unterstützten eine Petition, sich dann Befehlen zu verweigern. Die Gefahr ist vielen bewußt, zumindest ahnen sie diese. Aber was ist, wenn Israel diesen Beschluß nicht faßt? Dann gibt es entweder eine Situation der Apartheid oder es bilden sich objektiv und längerfristig binationale Strukturen heraus. Aus rein zionistischer Sicht, ist das die Wahl zwischen Pest und Cholera. Das ist der reale Zustand, das ist aber auch die historische Weggabelung, von der ich rede.
Im Jahr 1967 hat man den Apfel in den Mund genommen, war weder in der Lage diesen herunterzuschlucken, noch ihn wieder auszuspucken. Man erstickt an ihm im Moment. Es gibt keinen dritten Weg. Vogel-Strauß-Politik führt nicht weiter. Eher dazu, daß das Land weiter von Terror und permanenter Wirtschaftskrise gebeutelt ist. Die große Mehrheit wünscht sich Frieden. Aber der Frieden hat einen Preis. Die Entscheidung steht an.
F: Unter den vier Bedingungen, die Sie genannt hatten, ist doch auch die Forderung nach einem Rückkehrrecht ein sehr neuralgischer Punkt.
In der Tat, denn die Rückkehr würde im wörtlichen Sinne ja nicht bedeuten in einen palästinensischen Staat zurückzukehren. Die Flüchtlinge kommen ja aus dem israelischen Kernland, aus dem sie 1948 vertrieben worden oder geflüchtet sind. Im Rahmen einer Zwei-Staatenlösung wäre die Einwanderung in den palästinensischen Staat möglich, weil es eben der Nationalstaat der Palästinenser wäre. Natürlich wäre das dann auch eine Frage, wie man die Gesellschaft ausbauen kann, die Infrastruktur, die Ökonomie und so weiter. Das Rückkehrrecht nach Israel kann entsprechend begrenzt sein. Darum habe ich von einem symbolischen oder prinzipiellen Recht gesprochen, denn mehr als zum Beispiel 200 000 Menschen wird Israel nicht aufnehmen wollen, denn die israelische Seite will ja den jüdischen Charakter des Staates wahren. Das ist zumindest der Standpunkt des Zionismus, und der wird von der großen Bevölkerungsmehrheit geteilt. Israel ist ein Staat, den die Juden gegründet haben, damit sie einen Nationalstaat haben. Das ist einer der Gründe, warum diese Frage des Rückkehrrechts ein so neuralgischer Punkt ist. Die Frage des Rückkehrrechts ist nicht nur eine Frage der Flüchtlinge, sondern eine, inwieweit sich Palästinenser und Israelis überhaupt auf eine Zwei-Staatenlösung einlassen. Haben sie sich auf eine solche eingelassen, ist die Frage des Rückkehrrechts insofern gelöst, als daß damit ja auch der Staat Israel als ein vornehmlich jüdischer Staat anerkannt wäre, wie auch der der Palästinenser.
Eine ganz andere Frage ist, wie sich dann die großen ökonomischen Probleme gestalten. Ich halte eine Staatsgründung der Palästinenser ohne eine Öffnung des Arbeitsmarktes in Richtung Israel zum Beispiel für nicht denkbar.
F: Geht es längerfristig nicht auch um konföderative Lösungen?
Die Probleme im Nahen Osten sind so gelagert nehmen sie das Problem der Wasserversorgung , daß man längerfristig in konföderativen Strukturen denken muß. Das heißt, daß Israel, Jordanien, Syrien und Palästina dann prüfen müssen, wie man gemeinsame Probleme angeht. Das können sie auch als eigenständige Nationalstaaten, die eng kooperieren. Früher oder später wird es dann sowieso zu einer Verflüssigung solcher Grenzen kommen. Ich glaube, daß die Zukunft der Nationalstaaten begrenzt ist.
F: Zu einer anderen Frage. Das US State Department hat eine Studie herausgegeben, die sich mit der Zunahme des Antisemitismus in Europa beschäftigt. Das sei so die Studie mit dem Zuzug von Muslimen verbunden. Was halten Sie davon?
Auf eine Studie, die vom State Department ausgeht, würde ich mich nie berufen wollen. Das ist von vornherein ideologisch verdächtig. Warum beschäftigt sich das State Department jetzt mit dem europäischen Antisemitismus und den Muslimen? Das hat doch mit der Politik der USA in der arabischen Welt zu tun, mit dem »Krieg gegen den Terror«. Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus sind drei Paar Schuhe. Israel-Kritik kann betrieben werden, ohne daß man antizionistisch ist. Man kann antizionistisch sein, ohne antisemitisch zu sein. Man kann auch antisemitisch sein, Israel und den Zionismus hassen und die Amerikaner ebenfalls. Umgekehrt ist es möglich, die Amerikaner zu bewundern und trotzdem antisemitisch zu sein. Das eine hängt mit dem anderem nicht zusammen. Von seinen Ursprüngen her, ist der Islam nicht antisemitisch. Der Antisemitismus kommt aus dem Abendland. Antisemitismus im Islam ist erst durch den Konflikt Israel-Palästina relevant geworden. Es gibt in der Tat Formen des Antisemitismus, die mit dem Islam zusammenhängen. Etwa nach folgendem Muster: Der Islam reagiert auf den Westen im antikolonialistischem Sinne. Der Westen wird mit Amerika gleichgesetzt. Amerika wird mit dem Kapitalismus gleichgesetzt. Der Kapitalismus wird mit der Zirkulationssphäre gleichgesetzt. Die Zirkulationssphäre wird schließlich mit dem Juden gleichgesetzt. Die antisemitische Formel entsteht so aus einem Ursprung, der zunächst nur etwas mit dem Ressentiment des Islam gegenüber dem Westen als dem Träger des Kolonialismus zu tun hat. Das jetzt als Regel für den Islam zu setzen, ist aber eher eine Sache, die die ideologischen Bedürfnisse des State Department bedient.
Es gibt in der Tat einen besorgniserregenden Anstieg des Antisemitismus in Europa. Die nach Europa gezogenen Islamisten mögen dabei eine Rolle spielen. Ich glaube, daß dieser Anstieg des Antisemitismus aber eher mit ganz anderen Ursachen zu tun hat. Mit sozialökonomischen Diskrepanzen, mit abgebrochenen Lebenswelten, mit anderen Problemen, die innergesellschaftlich eine Rolle spielen. Ich glaube auch nicht, daß der Antisemitismus heute noch eine größere Rolle für die Juden in der Welt spielt. Womit haben wir es tatsächlich zu tun, wenn wir vom europäischen Antisemitismus reden? Ich glaube, wir haben es mit dem Problem zu tun, daß aus der Verschmelzung von erster, zweiter und dritter Welt in Europa ein zunehmender Fremdenhaß entsteht. Mit dem Zufluß entstehen soziale Spannungen, besonders in den ehemaligen Kolonialländern. Der europäische Rassismus und Faschismus hat eher etwas mit Europa zu tun, als mit dem Zuzug von Islamisten. Warum aber kommen immer mehr Menschen aus der sogenannten dritten Welt in die erste? Das ist ziemlich klar: Weil es nichts zu fressen gibt und dann suchen sich die Leute eben einen anderen Ort, wo es was gibt.
http://gnn-archiv.staticip.de/archiv/PB/2005/04pb.pdf // Seite 4-6