10. November 2007

KameraIm niedersächsischen Stade werden die 1700 Einwohner eines Stadtviertels rund um die Uhr überwacht: Mit über 300 Videokameras, 100 weitere sollen noch installiert werden. Mit der Begründung, »Straftaten« so besser dokumentieren zu können, hatten die Wohnungseigentümer unlängst beschlossen, alle Plätze, die Haus­eingänge, Fahrstühle und Treppenhäuser sowie die Müllpavillons mit moderner Technik zu überwachen.

Die »Bevölkerung will die Kameras nicht – sie müssen wieder weg«, forderte am Freitag der Vertreter des Stader »Sozialbüros«, Werner Gutmann, im Gespräch mit junge Welt. In der ehrenamtlich betriebenen Einrichtung werden unter anderem Erwerbslose, aber auch Geringverdiener, kostenlos beraten. Rund 70 Prozent der Bewohner des Viertels zählen zu diesem Personenkreises. Seit Installation der Kameras fühlten sich die Bewohner »wie in einem Knast«, sagte ein junger Mann aus der Breslauer Straße.

Solche Einwände zählen bei den Eigentümern der 660 Wohnungen nicht, die sie schon 1986 nach der Pleite der gewerkschaftseigenen Neue Heimat gekauft hatten – zu Spottpreisen und häufig als reines Renditeobjekt. Die Eigentümerversammlung argumentiert laut Gutmann damit, daß die zahlreichen leerstehenden Wohnungen besser vermietet werden können, wenn »gefühlte Sicherheit« ins Viertel einkehre. Für die Kameras zahle das Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« obendrein noch Zuschüsse.

Die ständige Beobachtung sei nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein unzulässiger Eingriff in das »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung«, sagt der Stader Rechtsanwalt Rainer Kattau. Vor der Installation der Kameras hätten deshalb die Mieter zustimmen müssen. Kattau vertritt mehrere Mandanten, bei denen die um 180 Grad schwenkbaren Geräte direkt vor den Wohnungstüren angebracht wurden.

»Das ist weniger dramatisch, als es scheint«, sagt hingegen der Chef der Stader Stadtverwaltung, Dirk Kraska. Rechtliche Probleme gebe es schon deshalb nicht, weil die mit einem Bewegungsmelder ausgerüsteten Kameras auf Privatgrundstücken stünden. Die Aufzeichnungen würden zudem nach sieben Tagen gelöscht. Doch zuvor wird das Filmmaterial laut Gutmann ausgewertet: durch die Hausmeister der Eigentümergemeinschaft. Und jetzt hätten viele Bewohner Angst, daß diese das Material mißbrauchen könnten. Denn die Kontrolleure kontrolliere in Stade niemand. »Das ist der Gipfel der Unverschämtheit«, sagte Jan Korte, Innenpolitiker der Bundestagsfraktion Die Linke, am Freitag gegenüber junge Welt. Zur Auswertung des Filmmaterials müsse geschultes Personal sowie ein Datenschutzbeauftragter eingesetzt werden.

Doch der Wahnsinn kennt in Stade keine Grenzen: An den Mülltonnen seien jetzt auch Chipanlagen installiert worden, berichtete am Freitag der Sprecher der Linkspartei in diesem Viertel, Klaus Stahncke. Die Tonnen ließen sich jetzt nur noch mit Hilfe eines persönlichen Chips öffnen. Damit lasse sich jetzt exakt nachprüfen, wer um welche Uhrzeit Müll eingeworfen habe.

[Dieser Beitrag erschien als Titel-Story in der Jungen Welt vom 10. November 2007. Sie können ihn deshalb hier als PDF-Datei herunterladen.]

Verwendung: Junge Welt vom 10. November 2007
Permalink zu diesem Artikel, Kommentare lesen oder schreiben: hier
Eintrag versenden: hier