Fünf Jahre nach Tod eines Nigerianers durch Brechmitteleinsatz: Anzeigen gegen Politiker, Juristen, Polizisten und Ärzte wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung

Hamburgs Innensenator Udo Nagel (parteilos) und Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) als Beschuldigte vor dem Bundesgerichtshof? Fünf Jahre nach dem Tod des 19jährigen Nigerianers Achidi John, der am 9. Dezember 2001 an den Folgen eines Brechmitteleinsatzes in Hamburg verstarb, haben am Donnerstag 26 Rechtsanwälte, Pastoren und Ärzte bei Generalbundesanwältin Monika Harms Strafanzeige gegen »alle Personen erstattet, die direkt oder indirekt« an der Durchführung der seit 2001 etwa 500 Brechmitteleinsätze allein in Hamburg beteiligt waren. Neben Nagel und Lüdemann beträfe dies auch die sozialdemokratischen Exsenatoren Olaf Scholz und Lore Maria Peschel-Gutzeit, die die Methode 2001 eingeführt hatten, sowie ihre rechtspopulistischen Nachfolger Ronald Schill und Roger Kusch. Verantworten müßten sich, käme es zu einem Verfahren, aber auch Ärzte, Polizisten und Staatsanwälte. Die Anzeige gegen sie alle lautet auf Nötigung oder gefährliche Körperverletzung im Amt.

Daß der Einsatz von Brechmitteln nichts anderes als Folter ist und deshalb gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, hatte im Juli schon der Europäische Gerichtshof festgestellt. Das Urteil war auf Antrag eines Mannes ergangen, der 1993 in Nordrhein-Westfalen Opfer eines Brechmitteleinsatzes unter Gewaltanwendung geworden war. Wegen dieser »inhumanen und erniedrigenden« Methode, die das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtige, hatte der Gerichtshof in Strasbourg die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10000 Euro verurteilt. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß auf diese Weise erlangte Beweismittel, etwa in Form verschluckter Drogen, grundsätzlich einem gerichtlichen Verwertungsverbot unterliegen.

Ähnlich wie dem aus Sierra Leone stammenden Kläger erging es seit 1993 sehr vielen Menschen in mehreren Bundesländern. Auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten vor ihrer Festnahme Drogen verschluckt haben, wurden sie gezwungen, das gefährliche Brechmittel Ipecacuanha-Sirup schlucken. Wer sich widersetzte, dem wurde das Mittel mit Hilfe einer Sonde über die Nase in den Magen gepumpt, obwohl längst bekannt war, daß dies nicht nur zum Kreislaufzusammenbruch, sondern auch zu Organverletzungen führen kann.

So war es auch bei Achidi John, den gleich fünf Polizisten gefesselt hatten, bevor ihm dann eine Ärztin die etwa 830 Milliliter des mit Wasser verdünnten Sirups in den Magen pumpte. Wie er dabei zu Tode kam, wurde nie aufgeklärt. Begonnene Vorermittlungen der Hamburger Staatsanwaltschaft verliefen schon nach kurzer Zeit im Sande. Selbst, als das Strasbourger Urteil vorlag, wollten die Hamburger Politiker nicht von ihrer Folterpraxis lassen. »Wir sind und bleiben dafür«, erklärte beispielsweise der SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel.

Für Rechtsanwalt Martin Klinger, einen der Initiatoren der Strafanzeige, ist schon die Androhung dieser »Folterwerkzeuge« Grund genug, sämtliche Strafverfahren, die auf solcherart erzielten Beweisen basieren, neu aufzurollen. »Sie können nicht sagen, sie hätten nicht gewußt, daß das Unrecht ist«, betonte der Hamburger Arzt Bernd Kalvelage. Gegenüber jW wies er darauf hin, daß sich viele seiner Kollegen der Brechmittelpraxis verweigern. Die Bundesärztekammer habe schon 1996 auf die Gefährlichkeit und das Unrecht dieser Behandlung verwiesen. Kalvelage regte deshalb Berufsordnungsverfahren vor der Ärztekammer gegen Kollegen an, die das Mittel in der Zeit danach verabreicht haben.

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