Hamburger Enquete-Kommission untersucht Möglichkeiten zur Reform der Schulstruktur. GEW will »Schule für alle«. Ein Gespräch mit Klaus Bullan
* Klaus Bullan ist Vorsitzender der GEW in Hamburg
F: Die Hamburger Bürgerschaft hat eine Enquete-Kommission zur Schulstrukturreform eingesetzt. Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) schlägt ein zweigliedriges Schulsystem vor. Wie beurteilen Sie das?
Das bisher dreigliedrige System hat schwere Mängel. Doch wir fürchten, daß nun ausgerechnet die Gesamtschulen wegfallen, die dann mit Haupt- und Realschulen zur Mittelschule zusammengefaßt werden, während die Gymnasien unangetastet bleiben. Das lehnen wir ab, denn die Gesamtschule ist neben der Grundschule die einzige allgemeinbildende Schulform, die integrativ ist. Die Hauptschule in Frage zu stellen, war überfällig, denn sie ist in Hamburg Restschule. Sie führt nur noch zehn Prozent der Schüler, wovon Dreiviertel Risikoschüler sind, d.h. Schüler, deren Berufschancen minimal sind.
F: Hat die Gesamtschule nicht versagt?
Schwächen ergeben sich vor allem aus der Konkurrenz zum gegliederten Schulsystem, das auf Selektion gerichtet ist. Aufs Gymnasium gehen überwiegend Kinder aus mittleren oder höheren Schichten, während die übrigen Schulen eher bildungsfernere Schichten erreichen. Ihre volle Wirkung könnte die Gesamtschule erst entfalten, wenn sie die einzige Schulform wäre und damit die Selektion nach der vierten Klasse aufhört.
F: Um welche Inhalte geht es bei der Schulstrukturdebatte?
Es sind unterschiedliche Konzepte, die sich da niederschlagen. Während wir die Integration in heterogene Lerngruppen fordern und Möglichkeiten der individuellen Förderung ausbauen wollen, geht konservative Bildungspolitik von feststehenden und unterschiedlichen Begabungen aus, worauf sich dann die Selektion bezieht. Doch wir sind überzeugt, daß die Entwicklung jedes Schülers viel besser verläuft, wenn die Ausgangssituationen in einer Lerngruppe vielfältig sind. Der Lernerfolg des einzelnen hängt in der Regel nicht von Begabungen, sondern vom sozialen Hintergrund ab. Deshalb ist es unser Ziel, jedem Kind unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft die besten Chancen zu geben. Unser Zukunftsmodell ist die »Schule für alle«, wo Kinder und Jugendliche bis zur zehnten Klasse in einer gemeinsamen Schulform unterrichtet werden, die durch einen mittleren Bildungsabschluß endet. Erst danach ergäbe sich die Trennung in eine Oberstufe mit der Perspektive des Abiturs und/oder der beruflichen Ausbildung.
F: Und wie sollte eine solche Schule konkret aussehen?
Diese Schule wäre eine Ganztagsschule, die durch enge Stadtteilbezüge einen lebendigen Lebens- und Lernraum für alle Schüler schafft. Die Angebote einer Schule dürfen sich nicht nur auf den Unterricht beziehen. Sie müssen zahlreiche weitere Aktivitäten einbeziehen. Wir brauchen mehr Gruppenarbeit und weniger Frontalunterricht. Eigenarbeit und praxisorientierte Projektarbeiten müssen gestärkt werden. Für den Unterricht sollten Beziehungen aus dem Stadtteil und aus der Arbeitswelt stärker genutzt werden. Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Das ist angesagt. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
F: Welche Auswirkungen für die Unterrichtsgestaltung hätte eine Schule für alle?
Verantwortung könnte nicht länger abgeschoben werden. Wir sind ja Weltmeister im Abschieben. Nirgendwo sonst gibt es so viel Sitzenbleiben, Zurückstellungen und Abschulungen wie in Deutschland. Bildungskarrieren erhalten häufig einen Knick, Kinder werden als Versager beschämt. Klassenarbeiten werden nicht geschrieben, um den Schülern Feedback zu geben, wo sie stehen, sondern um zu selektieren.
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